Materialität im Strukturverständnis des Critical Realism

July 17, 2017 | Autor: Dimitri Mader | Categoria: Social Theory, Critical Realism, Materialism
Share Embed


Descrição do Produto

Materialität im Strukturverständnis des Critical Realism Diskussionspapier für die Frühjahrstagung der Sektion Soziologische Theorie am 8. und 9. Mai 2015 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Thema der Tagung: Struktur – Institution –Regelmäßigkeit: Welche Konsequenzen hat eine Einbeziehung von Materialität für die Untersuchung 'des Sozialen'?“) (Nicht veröffentlichtes Manuskript) von Dimitri Mader Die Sozialphilosophie und -theorie des Critical Realism (CR), wie sie auf Roy Bhaskars frühe Schriften zurückgeht und dann hauptsächlich von Andrew Sayer, Margaret Archer und Dave Elder-Vass weiterentwickelt wurde, bietet eine interessante Perspektive, um über die Fragestellung dieser Tagung nach den „Konsequenzen der Einbeziehung von Materialität für die Untersuchung des Sozialen“ (Tagungsprogramm) nachzudenken. Ich werde im Folgenden versuchen, das theoretische Potential dieser Perspektive möglichst stark zu machen, um diese doch recht unbekannte Position der kritischen Diskussion zugänglich zu machen. Die Stärken des CR im Hinblick auf die Fragestellung sehe ich in zwei Punkten: Erstens entwickelt der CR einen 'materialistischen' Ansatz von sozialer Struktur im weiteren Sinne: Das Soziale, bzw. bestimmte soziale Strukturen, besitzt, obgleich Produkt der Aktivitäten intentional handelnder Akteure, eine Realität sui generis gegenüber den Vorstellungen und Intentionen der Handelnden. Dieses Verständnis von 'materialistisch', wie es sich u.a. bei Marx findet, fundiert der CR im Emergenzbegriff (ich werde darauf eingehen, indem ich auf die erste Frage der Tagungseinladung antworte). Zweitens liefert dieser „Emergenzmaterialismus“ einen guten Ansatzpunkt, um Materialität im engeren Sinne in die Sozialtheorie und empirische Untersuchung des Sozialen zu integrieren (= Beantwortung der zweiten Frage) 1. Welchen Stellenwert hat der Strukturbegriff in soziologischen Theorien insgesamt und wie unterscheidet er sich gegebenenfalls vom Institutionenbegriff bzw. der Feststellung von Regelmäßigkeiten generell? Was ist soziale Struktur im Critical Realism? Grundlegend ist ein qualifizierter oder „kritischer Naturalismus“, d.h. die Annahme, dass es in den Sozialwissenschaften ebenso wie in den Naturwissenschaften um eine Rekonstruktion kausaler Mechanismen geht. Soziale Strukturen – als die Hintergrundbedingung sozialer 1

Mechanismen - sind in einem den Gegenständen der Naturwissenschaften analogen Sinne real, insofern ihnen kausale Kraft (causal power) (also das Vermögen, Wirkungen hervorzubringen) zugeschrieben werden kann. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Strukturen und Mechanismen in der Gesellschaft und in der Natur besteht darin, dass erstere konstitutiv abhängig sind von den Aktivitäten und Vorstellungen handelnder Menschen. Mechanismen in der Natur – wie z.B. Gewitterbildungen – existieren auch ohne dass Menschen handelnd an ihnen beteiligt sind, soziale Mechanismen, wie z.B. Inflation, nicht. Mit diesem Verständnis von Struktur und Kausalität wendet sich der CR zugleich gegen einen empiristischen Szientismus, der die Einheit von Sozial- und Naturwissenschaften in einer Methodologie gründet, welche zentral im Auffinden von empirischen Regelmäßigkeiten besteht, wie auch gegen hermeneutische und sozialkonstruktivistische Ansätze, die von einer Dualität von Natur- und Sozialwissenschaften ausgehen, weil diesen zwei unüberbrückbare Ontologien zu Grunde lägen: hier Kausalität im empiristischen Sinne von strikten Regelmäßigkeiten, dort Sinnstrukturen, die sich nur verstehend erschließen lassen. Wie ich weiter unten argumentiere, ist es gerade die Zurückweisung dieses ontologischen Dualismus, welche den CR besonders interessant macht, um Materialität und Soziales zusammenzubringen. Der Unterschied zwischen (sozialen) Strukturen im Sinne des CR und Strukturen im empiristischen Sinne von Regelmäßigkeiten und daraus konstruierten nomologischen Hypothesen und Modellen ergibt sich, wie schon erwähnt, aus dem Kausalitätsverständnis des CR. Kausalität wird hier nicht im Humeschen Sinne als strikte Aufeinanderfolge von Einzelereignissen gedacht (immer wenn A dann B), sondern als generativer Mechanismus mit bestimmten Wirkkräften (powers), die sich empirisch ganz unterschiedlich manifestieren können. Dem liegt ein stratifiziertes Verständnis der Realität zu Grunde, welches Bhaskar folgendermaßen zusammenfasst (vgl. Graphik 1; Bhaskar 1997, 2):

Auf der Ebene des Empirischen befinden sich die von uns wahrgenommenen Ereignisse (Empirical). Davon zu unterscheiden sind die Ereignissen selbst (Actual), d.h. alles was tatsächlich passiert, unabhängig davon, ob wir es wahrnehmen oder nicht. Ereignisse wiederum werden hervorgebracht durch das Operieren von generativen Mechanismen (Real) (vlg. auch Fleetwood in Lindner/Mader 2015). Letztere zeichnen sich durch ihre Potentiale aus, ganz bestimmte Wirkungen hervorbringen zu können. Entscheidend ist, dass generative Mechanismen erstens auch existieren, wenn sie gerade nicht aktiviert sind (eine power haben und eine power ausüben ist nicht das selbe), zweitens in offenen Systemen (und Gesellschaft ist ein solches 2

offenes System) häufig mit anderen Mechanismen interagieren, so dass sie keine uniformen Ereignisfolgen erzeugen und somit auch keine empirisch beobachtbaren Regelmäßigkeiten. Regelmäßigkeiten und empirische „Gesetze“ sind demzufolge auf der Ebene des Empirischen angesiedelt. Sie sind allein deshalb kein sinnvoller Kandidat für reale soziale Strukturen, weil sie keine kausale Kraft besitzen, sie bewirken nichts. So ist z.B. ein probabilistisches Gesetz, das einen Zusammenhang zwischen Wohnort und Geburtenrate beschreibt (etwa: je urbaner das Umfeld, desto geringer die Geburtenrate) keine Ursache für das generative Verhalten der betreffenden Bevölkerung. Niemand bekommt ein Kind, weil eine statistische Verteilung von Geburten so und so ist (höchstens sekundär, auf Grundlage der Kenntnis einer wissenschaftlichen Publikation der Verteilung von Geburten; dann ist aber diese Publikation und das Wissen von ihr ein kausaler Faktor und nicht die Verteilung selbst). Inwiefern können nun soziale Strukturen kausale Kraft haben? Hier ist der Begriff der Emergenz entscheidend. Elder-Vass spricht präzisierend von synchroner und relationaler Emergenz des Sozialen (Elder-Vass 2010). Er meint damit, dass eine bestimmte soziale Entität (z.B. eine soziale Organisation) zu einem gegebenen Zeitpunkt (daher synchron) bestimmte emergente Eigenschaften und Wirkkräfte besitzt, die ihr als Ganzes zukommen und nicht auf die Eigenschaften ihrer Einzelteile allein zurück zu führen sind. Emergente Eigenschaften kann eine Organisation sowohl „nach außen“ haben, wie z.B. die Produktivität einer Automobilfabrik, welche sich aus dem Zusammenspiel einer bestimmten Struktur von Arbeitsteilung und Maschinerie ergibt, aber auch „nach innen“, gegenüber ihren Mitgliedern. Hier kann man auch von downwards-causation sprechen. Ein Beispiel wäre die Handlungsmacht von Arbeitnehmer_innen in bestimmten strategischen Positionen, kollektiv den gesamten Betriebsablauf lahm legen zu können und damit dem Unternehmen erheblichen finanziellen Schaden zu zu fügen (siehe Lokführerstreik). Dieses Vermögen haben die Arbeitenden nur, insofern sie eine bestimmte Position innerhalb der Struktur der Arbeitsorganisation besetzen, es ist damit eine Eigenschaft, die sich aus der Organisationsstruktur ergibt, nicht aus den persönlichen Fähigkeiten und Motiven der Individuen. Gleichwohl haben diese emergenten Eigenschaften nichts unerklärbares oder gar mysteriöses an sich. Sie entstehen aus den Interaktionsmechanismen der Einzelteilen (die wiederum spezifische emergente Eigenschaften besitzen), wenn diese auf eine bestimmte Art miteinander in Beziehung stehen. Eine emergente Eigenschaft ist damit eine Resultante aus Einzelteilen plus ihrer Beziehungen bzw. Organisation. Das bedeutet auch, dass eine gute Erklärung emergenter Eigenschaften auf die Eigenschaften der einzelnen Elemente, ihre Relationen und Interaktionsmechanismen rekurrieren muss. Eine solche explanatorische Reduktion ist aber keine eliminative Reduktion der Eigenschaften der Struktur: Das strukturelle Ganze hätte diese Eigenschaften nicht, wären ihre Teile nicht auf diese spezifische Art miteinander relationiert. „Even though we can explain how a power works as a result of the interactions between the parts of a whole, it still remains a power of the whole, if those parts only have that power when they are organised into this kind of whole.“ (Elder-Vass in 3

Lindner/Mader 2015). Dies unterscheidet den CR von der Rational Choice Theorie, bzw. ihrem methodologischen Individualismus, der postuliert, dass sich letztlich alle Erklärungen des Sozialen restlos auf Eigenschaften und Handlungen von Individuen zurück führen lassen müssen. 2. Inwieweit können oder sollten klassische soziologische Positionen erweitert werden, um einen besonderen, evtl. mitwirkenden Stellenwert des Materiellen und Leiblichen einzubeziehen? Auch wenn Materialität und Leiblichkeit nicht im Zentrum der kritisch realistischen Sozialontologie stehen, so bietet diese doch einige Ansatzpunkte für deren Integration. Basal scheint mir hierfür der kritische Naturalismus zu sein, der zwar auf der qualitativen Besonderheit des Sozialen besteht, zugleich aber einen ontologischen Dualismus und eine damit verbundene Inkommensurabilität in der Methodologie von Natur- und Sozialwissenschaften vermeidet. Das ermöglicht es, das Verhältnis von Sozialem und Natur als eines der wechselseitigen Interaktion natürlicher und sozialer Mechanismen sowie der Einbettung sozialer Strukturen in natürliche Zusammenhänge zu denken – wobei sowohl die wechselseitige Beeinflussung und Durchdringung als auch die jeweilige relative Eigenlogik konzeptuell bewahrt werden kann. An drei ausgewählten Beispielen möchte ich dies kurz erläutern: a) Die Einbettung sozialer Zusammenhänge in bio-physische Prozesse Die theoretische Etablierung der Eigenlogik und Nicht-Reduzierbarkeit des Sozialen auf physikalische, psychische und biologische Prozesse war von Beginn an zentral für das Selbstverständnis der Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie als Disziplin. Darüber wurde allerdings all zu oft von der Einbettung des Sozialen in natürliche Zusammenhänge abstrahiert. Diese Abstraktion funktioniert spätestens dann nicht mehr, wenn der unhintergehbare menschliche „Stoffwechsel mit der Natur“ (Marx) ins Stocken gerät, weil sich „die Natur“ zurückmeldet und unangenehm ins sozialkonstruktivistische Bewußtsein einbricht. Davon zeugen u.a. die sich verdichtenden Debatten um „Postwachstumsgesellschaft“, die aus den Spezialdisziplinen wie der Ökologischen Ökonomik mittlerweile mitten in die Soziologie vorgedrungen sind (siehe etwa die Debatten rund um die Kollegforscher_innen Gruppe „Postwachstumsgesellschaft“ in Jena). So argumentiert Clive Spash, dass die Vorstellungen der orthodoxen Ökonomik von unendlich ablaufenden Güter- und Geldströmen bzw. eines im Prinzip unendlich sich fortsetzenden volkswirtschaftlichen Wachstums auf jener verhängnisvollen Abstraktion beruhen. Rohstoffe können aber nicht unendlich abgebaut werden und die Absorbtionsfähigkeit für Abfälle und Giftstoffe der Natur ist begrenzt. Das was in der Ökonomik nur als ökonomisches Faktum erscheint (als Ware mit einem Preis), ist zugleich in bio-physische Reproduktionsprozesse eingebunden, die ihre ganz eigene Logik und Zeitlichkeit besitzen. Ökologische Krisen können dann u.a. daraus erklärt werden, dass die Eigenzeitlichkeiten sozioökonomischer und bio-pyhsischer Reproduktionsprozesse desynchronisiert sind (wenn z.B. die 4

ökonomische Logik einen schnelleren Holzabbau erfordert, als entsprechend der bio-pyhsischen Logik nachwachsen kann). “This type of embeddedness is one of the key messages ecological economists have been at pains to communicate i.e., the economy is embedded in the Natural environment and subject to the Laws of Thermodynamics. Yet, embeddedness should not be confused with reductionism. That elephants are constructed of physical and chemical components does not mean the behaviour of elephants can be understood by analysis of or reduction to those components.” (Spash in Lindner/Mader 2015) Mit dem Critical Realism kann man dieses Verhältnis als eines der Emergenz denken: Soziale Strukturen und Mechanismen stellen gegenüber den Strukturen und Mechanismen der Natur eine emergente Ebene der Realität dar. Das bedeutet einerseits, dass Gesellschaft eine Eigenlogik gegenüber bio-physischen Prozessen besitzt, andererseits aber in diesen Prozessen fundiert und existentiell von diesen abhängig ist. Auch wenn Gesellschaft auf Natur zurückwirkt, ist deren Verhältnis ontologisch nicht symmetrisch: Natur kann auch ohne menschliche Gesellschaft existieren, Gesellschaft aber nicht ohne Natur. Genau dies drückt der Emergenzbegriff aus. b) Praxis als immer zugleich symbolisch vermittelt und körperlich-materiell bedingt Einen anderen Blick auf die Rolle von Materialität in der Sozialtheorie eröffnet Margaret Archer mit ihrer Agency-Theorie. In ihrem 2000 erschienenen Being Human betont sie die doppelte Einbettung menschlicher Praxis: als intentional handelnde Wesen sind unsere Praktiken immer in symbolische Strukturen eingebettet (die Gegenstände und Situationen mit und in denen wir handeln sind sinnhaft gedeutet), als körperliche Wesen stehen wir zugleich aber auch immer in Interaktionen mit der Welt natürlicher Gegenstände und Artefakte (vgl. Graphik 2, in: Archer 2000, 162).

5

Deren Eigenschaften und Wirkkräfte gehen nicht in unseren Deutungen von ihnen auf und wirken auch auf uns jenseits bewusster und sprachlich vermittelter symbolischer Repräsentation. Letzteres hat Archer zu Folge wichtige Implikationen für die Konstitution unseres Selbst. Erstens erwerben wir einen Selbstsinn (sense of self) aus unseren frühkindlichen und vorsprachlichen Interaktionen mit der materiellen Welt. Die basale Unterscheidung zwischen uns Selbst (unserem Leib) und der Welt, sowie die Erfahrung der Konstanz von Objekten und unserer Selbst über die Zeit hinweg lernen wir aus unseren senso-motorischen Interaktionen mit der Welt. Diese Erfahrungen sind zwar sozial vermittelt, zugleich aber in ihrem Kern etwas universell Menschliches, weil wir sie machen insofern wir verkörperte Wesen mit der Fähigkeit zu Selbstbewusstsein sind (Archer rekurriert hier u.a. auf Jean Piaget und Marcel Mauss). Bedeutsam ist dies u.a., weil es klar macht, dass Menschen zwar je nach kulturellem Kontext sehr unterschiedliche Konzepte des Selbst entwickeln (z.B. individualistische versus kollektivistische), dass diesen unterschiedlichen sozialen Identitäten jedoch ein gemeinsamer basaler Selbstsinn zugrunde liegt, d.h. ein Bewusstsein der eigenen Konstanz in der Zeit und durch unterschiedliche soziale Kontexte hinweg. Anders, so Archer, wäre die Zuschreibung sozialer Rollen und Identifiktion mit ihnen, mithin Gesellschaft überhaupt, gar nicht möglich: „Thus for anyone to appropriate social expectations, it is necessary for them to have a sense of self upon which these impinge such that they recognise what is expected of them (otherwise obligations cannot be internalised).“ (Archer 2000, 256). Zum zweiten bleibt die senso-motorische Interaktion mit Gegenständen der materiellen Welt auch im späteren Leben für die Bildung von Subjektivität wichtig. Sie schlägt sich in Form von körperlichem und praktischem Wissen nieder. Dieses embodied knowledge, das keine diskursive Form hat und nicht ohne weiteres bewusst abrufbar ist, existiert in Form von körperlichen Kompetenzen und Empfänglichkeiten und emergiert aus praktischen Interaktionen mit der Welt der Objekte. In diese „praktische Ordnung der Welt“ ist Soziales zwar immer schon eingeschrieben (siehe Graphik 2), zugleich wirkt in ihr aber immer auch die Eigenlogik der Dinge (wie z.B. physikalische Gesetze, die Beschaffenheit von Material, die Funktionsweise von Werkzeugen, Maschinen oder Musikinstrumenten usw.). Was wir im Umgang mit diesen materiellen Dingen verinnerlichen ist nicht nur sozial, sondern eben auch den Eigenschaften dieser Dinge, bzw. den materiellen Interaktionen mit ihnen, geschuldet. Archer betont diese beiden Punkte – die Entstehung eines Selbstsinns, sowie den Erwerb körperlichen Wissens durch den praktischen Umgang mit Objekten – um eine „übersozialisierte“ Sicht auf Subjektwerdung und Handlungsfähigkeit zurück zu weisen. Nicht alle Aspekte unseres Selbst und In-der-Welt-Seins folgen einer rein sozialen Logik. c) Artefakte und technische Objekte als Elemente sozialer Struktur Auf Grundlage der Sozialontologie des CR lassen sich Artefakte und technische Objekte relativ leicht als Teil sozialer Struktur begreifen. Der springende Punkt ist, dass für den CR Strukturen immer aus Teilen mit kausalen Wirkkräften (powerful particulars) bestehen, die in einer 6

spezifischen Weise miteinander relationiert sind. Im Fall von sozialer Struktur sind dies für gewöhnlich menschliche Individuen mit ihren als natürlichem Potential angelegten und sozial erworbenen Handlungsfähigkeiten, wobei hier besonders die Reflexivität (Archer 2000, 2003) und das Vermögen zur emotionalen Bewertung der Handlungssituation (Sayer 2011) in den Vordergrund gerückt werden. Objekte können dann ebenfalls als Teile sozialer Struktur begriffen werden, insofern sie analog zu menschlichen Akteuren soziale Positionen besetzen und auf Grundlage ihrer spezifischen Wirkkräfte in soziale Interaktionsprozesse eingebunden sind. Technische Objekte, z.B. Maschinen oder Computer in einer Fabrik, sind damit Entitäten mit spezifischen Wirkkräften, die mit Menschen – ebenfalls Entitäten mit spezifischen Wirkkräften interagieren und dadurch an der Hervorbringung neuer, emergenter Eigenschaften der Gesamtstruktur beteiligt sind. So auch Elder-Vass: „in a sense the power of the pin factory to produce pins at a certain rate is a power of an entity that includes both the workers and their tools. If this is so, then the organisation here is a kind of hybrid entity: an entity that includes both people and other material things as its parts, and depends on relations between both people and those other things to produce its emergent properties.“ (Elder-Vass 2010, 157) Technische Objekte können dabei als sozial im doppelten Sinne verstanden werden: Erstens wird etwas erst zu einem technischen Objekt, dadurch dass es für Menschen einen spezifischen Nutzen hat, bzw. eine Funktion innerhalb sozialer Zusammenhänge einnimmt. Dies kann analog zur Zuweisung von Statusfunktionen sozialer Akteure verstanden werden (etwa im Sinne Searls). In diesem Sinne besetzen technische Objekte eine soziale Position analog zu sozialen Akteuren und können im relationalen Sinne als sozial bezeichnet werden: ihr sozialer Charakter hängt von den Relationen ab in denen Menschen zu ihnen stehen (vgl. Faulkner/Runde 2013). Zweitens haben technische Objekte aber auch intrinsisch sozialen Charakter, insofern sich in ihren materiellen Eigenschaften die Werte, Handlungen und sozialen Relationen der Vergangenheit niederschlagen. Man kann mit Clive Lawson sagen, dass sie eine materialisierte Form des Sozialen darstellen: „technology can be understood as the site in which the social achieves a different mode of existence through its embodiment in mateiral things“ (Lawson 2007). Dieser zweite Aspekt, die Einschreibung von Sozialität in die intrinsische Form der Dinge (im Gegensatz zur Sozialität, die sich in ihrer Funktion ausdrückt) ist besonders interessant, weil hier die Eigenlogik des Sozialen auf die Eigenlogik des Materiellen trifft, beide miteinander interagieren, ohne aufeinander reduziert werden zu können. Es ist richtig, dass die Funktion die Form bestimmt: etwas wird hergestellt in Hinblick auf seinen zukünftigen Gebraucht. Aber sobald Soziales in Form von Artefakten vergegenständlicht ist, unterliegt es nicht mehr nur sozialen Mechanismen, sondern auch physikalischen. Es hat eine materielle Beharrungskraft, die bestimmten Aspekten sozialen Strukturen mehr Stabilität geben kann, als wenn sie nicht auf diese Weise materialisiert wären (man denke hier beispielsweise an die Herrschaft stützende Funktion von Architektur oder Maschinensystemen). Und es hat eine Eigendynamik, nicht nur im Sinne technologischer Pfadabhängigkeit, sondern auch in dem Sinne, dass Technik außer Kontrolle geraten kann (Beispiel unkontrollierte Kernschmelze in Atomkrafwerken) (vgl. Mutch 7

2010). 3. Inwieweit stellt sich die alte Frage nach einer Priorität der Struktur bzw. einer Priorität der kleinsten Einheit neu, wenn man zugleich die Materialität und Leiblichkeit als Prämisse einbezieht? Die Fragen nach der kleinsten Einheit des Sozialen und die nach der Priorität von Struktur bzw. kleinster Einheit müssen im Rahmen des CR getrennt voneinander behandelt werden. Bereits Roy Bhaskars Transformational Modell of Social Action (Bhaskar 1998, 25 ff.), explizit aber erst Archers Morphogenetic Approach (Archer 1995) betonen einen analytischen Dualismus von Struktur und Handlungsfähigkeit, der gegen die Reduktion der einen auf die andere Seite gerichtet ist: Weder können die Wirkkräfte sozialer Strukturen auf die Eigenschaften von Akteuren reduziert werden (dies wäre der fallacy der upwards conflation), noch können die Handlungen und Handlungsfähigkeiten von Individuen aus den Strukturen abgeleitet werden (downwards conflation). Ebenso richtet sich dieses Modell aber auch gegen diejenigen Praxistheorien, die Struktur und Handlungsfähigkeit als ko-konstitutiv betrachten, als nur im Moment der Praxis existent, wodurch eben die emergenten Eigenschaften sozialer Struktur wie auch individueller Handlungsfähigkeit verschliffen werden (central conflation, vgl. hierzu auch Clegg in Lindner/Mader 2015). Nach diesem Ansatz formen soziale Strukturen die Handlungssituation, in der sich Akteure zum großen Teil unfreiwillig finden und konfrontieren diese mit spezifischen Möglichkeiten und Zwängen. Akteure mit je spezifischen Handlungsvermögen müssen sich zu diesen Situationen verhalten und treten so in den Prozess soziale Praxis ein. Durch diesen werden dann, ja nachdem wie die Praxis verläuft, soziale Strukturen reproduziert oder transformiert (vgl. Archer 1995). Wichtig ist hier zweierlei: Erstens steht im Zentrum des Verhältnisses von Struktur und Handlungsfähigkeit die Praxis und nicht sinnhafte Handlung. Der Grund ist, dass dadurch ein „intentionalistisch verkürztes“ Verständnis von Praxis (Giddens) vermieden werden soll. Menschen haben zwar stets Vorstellungen von ihren Handlungen (Intentionen und Deutungen der Situation), insofern ist menschliches Handeln auch stets konzeptabhängig (Bhaskar). Aber das heißt nicht, dass sie die richtigen Konzepte von dem haben, was sie da tun, bzw. dass ihnen ihre Handlungsbedingungen und -folgen durchsichtig wären. Entscheidend für die Frage der Reproduktion/Transformation von Strukturen ist daher, was Menschen tatsächlich tun, nicht, was sie sich dabei denken: „The conception I am proposing is that people, in their conscious activity, for the most part unconsciously reproduce (and occasionally transform) the structures governing their substantive activities of production. Thus people do not marry to reproduce the nuclear family or work to sustain the capitalist economy. Yet it is nevertheless the unintended consequence (and inexorable result) of, as it is also a necessary condition for, their activity.“ (Bhaskar 1998, 35) Zweitens ist aber gegenüber Praxistheorien nicht die Praxis selbst die kleinste Einheit der 8

Sozialtheorie, sondern die Elemente, die in der Praxis auf Grundlage ihrer strukturellen Positionierung miteinander interagieren. Praxis ist nur der Vermittlungsprozess, in dem Entitäten mit verschiedenen causal powers aufeinander treffen. Damit soll, anders als in Praxistheorien, sowohl die Eigenlogik von subjektiver Handlungsfähigkeit, als auch diejenige sozialer Strukturen berücksichtigt werden. Auf dieser Grundlage lässt sich dann Materialität in die Sozialtheorie integrieren, indem menschlichen Akteuren weitere Entitäten mit kausaler Kraft an die Seite gestellt werden, die in den Praxisprozess eingehen.

Literatur: Archer, Margaret S. (1995): Realist Social Theory. The Morphogenetic Approach. Cambridge University Press: Cambridge. Archer, Margaret S. (2000): Being Human. The Problem of Agency. Cambridge University Press: Cambridge. Archer, Margaret S. (2003): Structure, Agency and the Internal Conversation. Cambridge University Press: Cambridge. Bhaskar, Roy (1997 [1975]): A Realist Theory of Science. 2. Aufl. London: Verso. Bhaskar, Roy (1998 [1979]): The Possibility of Naturalism. A Philosophical Critique of the Contemporary Human Sciences. 3. Aufl. London: Routledge. Lindner, Urs/Mader, Dimitri (Hg.) (2015): Critical Realism meets kritische Sozialtheorie. Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften. Transkript (im Erscheinen). Elder-Vass, Dave (2010): The Causal Power of Social Structures. Emergence, Structure and Agency. Cambridge University Press: Cambridge. Faulkner, Philip/Runde, Jochen (2013): Technological Objects, Social Positions, and the Transformational Model of Social Activity. In: MIS Quarterly 37:3, 803-818. Lawson, Clive (2007): An Ontology of Technology: Artefacts, Relations and Functions. In: Teché: Research in Philosophy and Technology, 11:1. Mutch, Alistair (2010): Technology, Organization and Structre – A Morphogenetic Approach. In: Organization Science 21:2, 507-520. Sayer, Andrew (2011): Why Things Matter to People. Social Science, Values and Ethical Life. Cambridge University Press: Cambridge.

9

Lihat lebih banyak...

Comentários

Copyright © 2017 DADOSPDF Inc.