\"Michela Summa: Spatio-temporal Intertwining. Husserl\'s Transcendental Aesthetics. Heidelberg: Springer 2014.\"

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Philipp Schmidt: “Michela Summa: Spatio-temporal Intertwining. Husserl’s Transcendental Aesthetic. Heidelberg u.a.: Springer 2014”. In: Journal für Phänomenologie, 43, 2015 [in press].

Michela Summa: Spatio-temporal Intertwining. Husserl’s Transcendental Aesthetic. Heidelberg u. a. Springer 2014. 347 S., ISBN 978-3-319-06235-8, EUR 109,99.

Michela Summa behandelt in ihrer Studie die Frage nach dem Verhältnis von Räumlichkeit und Zeitlichkeit in der Phänomenologie Edmund Husserls. Ausgangspunkt hierbei ist die Feststellung, dass sich die Forschungsliteratur zu Husserl vorwiegend »entweder mit der Phänomenologie des Raumes oder der Phänomenologie der Zeit« (S. 3, Übers. P.S.) beschäftigt. Diesen Umstand führt Summa auf die von Husserl vorgenommene architektonische Unterteilung der Erfahrung zurück. Demnach lassen sich, wie sie in Rekurs auf die Ideen I ausführt, noematisch drei Schichten – res temporalis, res extensa und res materialis – sowie die dazu jeweils auf noetischer Seite entsprechenden konstitutiven Akte und Synthesen unterscheiden. Mit diesem Schichtenmodell der Erfahrung geht nach Summa jene isolierte Betrachtung der räumlichen und zeitlichen Konstitution einher, wobei bekannt ist, dass nach Husserl Letzterer ein Primat zukommt. Zwar arbeite dieser durchaus Analogien, Parallelen und Unterschiede der verschiedenen Ebenen heraus, nicht aber, wie Letztere bei der Konstitution der vollen, lebendigen Erfahrung ineinandergreifen. Genau darauf zielt Summas Schrift ab, in der sie nicht nur jene Verflechtung von Raum und Zeit in der lebendigen Erfahrung, sondern auch das hierbei zum Tragen kommende dynamische Zusammenspiel der beiden Konstitutionsebenen aufdecken möchte. Dabei formuliert sie zwei Leithypothesen: (1) Obwohl sich die unterschiedlichen Erfahrungsschichten abstrakt trennen und isoliert beschreiben lassen, »basiert eine solche Beschreibung dennoch auf dem Verständnis der Erfahrung als komplexes Ganzes« (S. 5, Übers. P. S.). (2) Auch wenn die Analyse der verschiedenen Schichten in Hinsicht auf Analogien und Parallelen durchaus wichtige Strukturen der räumlichen und zeitlichen Konstitution freizulegen vermag, »greift ein solcher Ansatz zu kurz, wenn es um die Beschreibung konkreter Phänomene der sinnlichen Erfahrung wie die Individuation, die Konstitution von Wahrnehmungsgegenständen auf der Basis ihrer perspektivischen Erscheinung und Leiblichkeitserfahrung geht« (S. 5, Übers. P. S.). Nicht sollen also die abstrakte Untersuchung einzelner Dimensionen der Erfahrung und eine Betrachtung der lebendigen Erfahrung in ihrer vollen Konkretion gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr ist es das Ziel Summas, am Leitfaden Letzterer das Schichtenmodell der Erfahrung zu ergänzen und den systematischen, wenngleich dynamischen Zusammenhalt seiner einzelnen Komponenten aufzuweisen. Dabei rekurriert sie auf das Manuskript D 12 IV, in dem Husserl selbst unter dem Stichwort einer »konfigurativen Einheit«

betone, dass die »vor-objektive, raum-zeitliche Konfiguration der Welt eben jener Unterscheidung von Raum und Zeit, als Formen betrachtet, ›vorausgeht‹« (S. 6, Übers. P. S.). Der erste von drei Teilen verfolgt das Ziel einer näheren Bestimmung des husserlschen Projekts einer transzendentalen Ästhetik, welche die unterste Dimension der Erfahrung – die Dingkonstitution – zum Gegenstand hat. In einem ersten Schritt grenzt sie das phänomenologische Unternehmen von Avenariusʼ Empiriokritizismus als wichtigen theoretischen Vorgänger ab. Anschließend konfrontiert sie Husserls und Kants Ansätze miteinander, wobei sie trotz der offenkundig

zwischen

ihnen

bestehenden

Differenzen

und

bspw.

Husserls

Kritik

am

Anthropologismus der Seelenvermögen bei Kant Letzteren für das phänomenologische Projekt einer Bestimmung des Verhältnisses der verschiedenen Erfahrungsschichten fruchtbar zu machen versucht. Dabei erblickt sie in der Unterscheidung der drei verschiedenen Auffassungsmöglichkeiten des Raumes das Schichtenmodell ebenfalls in Kants Theorie der Erfahrung. Anders als die Auffassung des Raumes als Anschauungsform, die der Sinnlichkeit entspräche, und jener im Sinne geometrischer Begriffe, der bereits den Verstand voraussetze, entstamme die Auffassung des Raumes als eines vorgestellten Gegenstandes einem »Zwischenreich« (S. 63). Denn die hierbei zum Tragen kommende Synthesis des Mannigfaltigen könne nicht allein durch die Sinnlichkeit geleistet werden, geschehe aber ohne Beteiligung von Begriffen. Summa sieht darin eine Spur des Übergangs zwischen den verschiedenen Erfahrungsschichten und ihres Zusammenspiels bei der Konstitution der vollen Erfahrung, die sie durch eine Untersuchung der Möglichkeit des Chaos weiterverfolgt (S. 68f.). Die Analyse der drei Formen der erfahrungskonstitutiven Synthesen bei Kant – Apprehension, Reproduktion und Rekognition – im Ausgang von Husserls Überlegungen zum Chaos führt zum Ergebnis, dass selbst die unterste Erfahrungsdimension, die Sinnlichkeit, nicht gänzlich frei von Ordnung sein kann (S.70). Somit zeigt Summa, dass selbst Kant, der jene starke Trennung der Erfahrungsschichten qua Seelenvermögen vornimmt, sie angesichts der Phänomene nicht vollständig aufrechterhalten kann. In der Gegenüberstellung zu Kant findet sich also nicht nur ein weiterer Beleg dafür, dass jene dynamische Verflechtung der Erfahrungsschichten bei Husserl bereits mitgedacht wird, vielmehr zeigt sich auch, dass die phänomenologische Analyse der Erfahrung selbst zur Untersuchung dieser Dynamik motiviert. Zunächst arbeitet Summa im zweiten Teil jedoch die Leistungen und Grenzen einer isolierten und lediglich analogen Betrachtung der beiden Erfahrungsdimensionen Raum und Zeit, die bei Husserl der Quantität nach dennoch dominierend bleibt, heraus. Hervorzuheben ist hierbei die Untersuchung der zeitlichen und räumlichen Extension in Ding und Raum, die Husserl als »verschwistert«1 erachtet. Wie Summa ausführt, geht in beiden Fällen der Extension als Ausdehnung, d. h. einer zeitlichen Dauer oder einer räumlichen Fülle, eine Extension im Sinne der Ausbreitung fundierend voraus (S.115, 132). Diese Extension als Ausbreitung umfasst im Gegensatz zur Ausdehnung nicht voneinander unabhängige Momente, die durch Teilung des Ganzen für sich stehen könnten – wie etwa die ersten Sekunden einer Melodie im Bereich der konstituierten, objektiven Zeit

oder der linke Teil eines Hauses im Bereich des konstituierten, objektiven Raumes. Vielmehr komme in der Extension als Ausbreitung eine unteilbare, verflochtene Einheit zum Tragen, die sich einer kontinuierlichen Synthesis verdanke. Diese fasse nicht erst einzelne Bestandstücke zusammen, sondern walte kontinuierlich in jener verflochtenen Einheit, vor deren Hintergrund erst mittels Abstraktion einzelne Momente unterschieden werden könnten. Gerade diese Synthese bleibe aber bei der isolierten Analyse der Erfahrungsdimensionen notwendig unaufgeklärt, insofern die ihr korrespondierende, ursprüngliche Einheit bereits eine raum-zeitliche Verflechtung aufweise (S. 143). Im dritten Teil widmet sich Summa der Phänomenologie der Individuation, der perspektivischen Gegebenheit und des Leibes als »Loci, die am besten die Bedeutung der raumzeitlichen Verflechtung veranschaulichen« (S. 151, Übers. P. S.). Das Phänomen der Individuation thematisiert sie im Kontext der formalen Ontologie, der transzendentalen Ästhetik und der Subjektivität. Dabei betont sie, dass die eidetischen Gesetze, welchen eine bloß formal-ontologische Bestimmung des Individuums entsprechen muss, nur durch Formalisierung der lebendigen, raumzeitlich strukturierten Erfahrung freigelegt werden können und somit notwendig auf Letztere verwiesen (S. 160). Die Individuation eines Objektes, als Gegenstand der transzendentalen Ästhetik, verdanke sich nicht zuletzt einer Verräumlichung der Zeit, was sich bspw. gerade in der Metapher der Zeitstelle als Moment der zeitlichen Individuation manifestiere, weshalb Summa den Ansatz einer rein zeitlichen Individuation ablehnt (S. 169). In Hinsicht auf die Individuation der Subjektivität unterstreicht sie, dass diese in der Struktur der responsiven Zuwendung zum ichfremden, hyletischen Moment des Bewusstseinsstromes gründe und somit nur vor dem Hintergrund der dem Subjekt inhärenten Weltoffenheit zu verstehen sei (S. 176). In Bezug auf die perspektivische Gegebenheit zeigt Summa auf, dass der Versuch Husserls, mit Blick auf den abnehmenden affektiven Gehalt von abklingenden Bewusstseinsphasen die zeitliche Perspektive analog zur räumlichen Perspektive und der damit verbundenen Verkleinerung eines Gegenstandes in der Wahrnehmung bei räumlicher Entfernung zu verstehen, das Phänomen nicht trifft. Vielmehr seien es gerade zeitlich weit zurückliegende Bewusstseinsereignisse, die im Hier und Jetzt unter Umständen eine viel höhere affektive Ladung aufwiesen als zeitlich nahe, aber relativ unbedeutende Erlebnisse. Erneut werde hierin der Verweis auf die raum-zeitlich strukturierte, lebendige Erfahrung deutlich, durch welche der jeweilige Affekt bestimmt werde (S. 198). Ausgehend hiervon untersucht sie ferner die der Wahrnehmung innewohnende Teleologie und bringt dabei das zweifache Interesse der Wahrnehmung zur Sprache: das der optimalen Gegebenheit eines Gegenstandes, das in der lebendigen Erfahrung begründet liegt und in ihr seine Richtschnur findet; und das theoretische Interesse, welches dem Ideal der adäquaten Gegebenheit korrespondiere. Summa hebt in Hinblick auf Letzteres hervor, dass auch dieses in die Dynamik der lebendigen Erfahrung eingeflochten sei, insofern das theoretische Interesse nicht nur der inadäquaten Gegebenheit der Wahrnehmungsobjekte entspringe, sondern in Folge auch im Sinne einer regulativen Idee als Leitfaden der Erfahrung auf deren Entfaltungsprozess nachwirke (S. 223). Im letzten Kapitel untersucht Summa schließlich die Leiblichkeit in Hinsicht auf die in ihr

zum Ausdruck kommende raum-zeitliche Verflechtung. Zentrales Anliegen ist hierbei, im Unterschied zum Konzept eines verkörperten Selbst Subjektivität als strukturell leiblich auszuweisen. In diesem Sinne betont sie erneut den abstrakten Charakter des absoluten Bewusstseins und arbeitet die konstitutive Rolle des Leibes für die sinnliche Wahrnehmung heraus. Aus dieser umfangreichen Analyse, welche den Leib als Wahrnehmungsorgan, die raum-zeitliche Situiertheit des Leibes, die erfahrungskonstitutive Bedeutung der Kinästhesen und der Bewegungen des Leibes, das Leibgedächtnis und leibliches Selbstbewusstsein thematisiert, sind mehrere Einsichten Summas besonders nennenswert. So betont sie zum Beispiel, dass Zeitbewusstsein stets auf leibliche Erfahrung verweise, insofern Form und Inhalt im Zeitbewusstsein nicht voneinander zu trennen seien und Letzterer durch den Leib vermittelt sei (S. 249). Ferner zeige sich die leibliche Verfasstheit des Selbst im Gegensatz zu einer bloß akzidentellen Verkörperung auch in den Berichten von Betroffenen von außerkörperlicher Erfahrung, insofern bei diesen gerade nicht eine Entkörperung des Selbst in toto erlebt werde, vielmehr eine Abspaltung des Leibes als objektiver, konstituierter Körper vom subjektiven, konstituierenden Leib als Nullpunkt der Orientierung. Obwohl sich die Betroffenen außerhalb ihres Körpers erführen, bleiben die leiblichen Strukturen der Situiertheit ausgehend von einem Nullpunkt der Orientierung im Sinne eines phantomhaften Leibes intakt, wodurch sie sich überhaupt erst als außerhalb ihres Körpers empfinden könnten (S. 264). Außerdem verdeutliche die wichtige Funktion des Leibgedächtnisses bei der Identifizierung eines Gegenstandes einmal mehr die ursprüngliche raum-zeitliche Verflechtung, vor deren Hintergrund erst Erfahrung von einem Ding möglich werde (S. 304). Summa hat mit ihrer Studie die beiden Diskurse zur Phänomenologie der Zeit und des Raumes zusammengeführt und damit ein wichtiges Desiderat erfüllt. Die hohe Relevanz des Buches beschränkt sich dabei nicht nur auf die Ausleuchtung eines bislang dunkel gebliebenen Bereiches. Vielmehr dürften ihre Ausführungen auf die jeweiligen isolierten Diskurse zu Raum und Zeit zurückstrahlen,

sodass

künftige

Analysen

dieser

Erfahrungsdimensionen

ihr

dynamisches

Zusammenspiel nicht mehr ausklammern können. In diesem Sinne ist der Text als Pflichtlektüre für alle diejenigen anzusehen, die sich mit Wahrnehmung, Zeitbewusstsein und Raumkonstitution beschäftigen. Aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Dingkonstitution und der dabei involvierten Erfahrungsdimensionen ist ihr Buch darüber hinaus für alle als wichtig einzuschätzen, die sich im Allgemeinen für eine kohärente phänomenologische Theorie der Erfahrung bei Husserl interessieren. Summas besondere Leistung besteht nämlich auch darin, bei der Vielzahl von Analysen einzelner Phänomene bzw. Erfahrungsaspekte einerseits die Gesamtsystematik des Schichtenmodells und andererseits die ganze, lebendige Erfahrung im Blick zu behalten. Auf diese Weise kommen die unterschiedlichsten, aber – wie Summa auf beeindruckende Weise aufzeigt – miteinander verknüpften Themen der Phänomenologie zur Sprache, sodass ihre Schrift auch als eine Art Kompendium genutzt werden könnte. Ihre Überlegungen sind allerdings stets durch das betreffende Argument geleitet und bleiben dem Ziel der adäquaten Phänomenbeschreibung durchwegs treu. Für die LeserIn stellt dies

angesichts

der

hohen

Dichte

an

phänomenologischen

Einsichten

bisweilen

eine

große

Herausforderung dar. Dies ist jedoch vor allem der Komplexität des Themas geschuldet. Umso bedeutsamer sind daher Summas gut strukturierte Vorgehensweise und die Klarheit ihrer Darlegungen. Obwohl sie im ersten Teil in das phänomenologische Projekt Husserls einer transzendentalen Ästhetik einführt, setzt ihre Studie allerdings profunde Kenntnisse der Phänomenologie voraus. Dennoch schafft sie in der Entfaltung ihrer Gedanken durchaus die Voraussetzungen, die für ein Verständnis erforderlich sind. Der Sache nach gelingt ihr damit eine überzeugende, weil vor allem auch an konkreten Phänomenen orientierte Darstellung der ursprünglichen Verflochtenheit von Raum und Zeit in der lebendigen Erfahrung als tragender Grund für die Dingkonstitution. Den Schluss, den sie aus dieser Einsicht zieht, nämlich, dass das Diktum Husserls vom »absoluten Bewusstsein als Residuum« einer hypothetischen Auflösung aller weltlichen Erfahrungszusammenhänge und vom Subjekt als »quod nulla re indiget ad existendum«2 in Frage zu stellen sei, spricht sie am Ende des letzten Kapitels jedoch vielleicht ein wenig zu leise aus. Zwar hatte Summa zu Beginn ihrer Abhandlung betont, dass es ihr nicht darum zu tun sei, die Frage nach einem etwaigen Primat einer der beiden Erfahrungsschichten zu beantworten. Durch die Betonung ihrer ursprünglichen Verflechtung wird aber gerade jene Frage nach einem Primat selbst problematisch. In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu erfahren, wie Summa die Auswirkungen der raum-zeitlichen Verflechtung auf das Konzept des transzendentalen Idealismus bei Husserl einschätzt. Gleichzeitig ist klar, dass eine erschöpfende Bearbeitung dieser nicht minder umfangreichen Fragestellung ein eigenes Buchprojekt darstellen würde.

Philipp Schmidt, Graz [email protected]

Anmerkung 1

Siehe Edmund Husserl, Ding und Raum, in: Husserliana, Bd. 16, hg. v. Ulrich Claesges, Den Haag: Martinus Nijhoff 1973, S. 65. 2 Siehe Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, in:Husserliana, Bd. 3/1, hg. v. Karl Schuhmann, Den Haag: Martinus Nijhoff 1976, S. 103f.

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