Paradigma Fotografie

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Steffen Siegel

Paradigma Fotografie Paradigmen Die erste Fassung von Thomas S. Kuhns epochaler Studie The Structure of Scientific Revolutions wurde nicht allein vor einem halben Jahrhundert publiziert, sondern überdies, so jedenfalls will es scheinen, in einer längst vergangenen Zeit.1 Denn die von Kuhn in diesem Buch entfaltete und seither längst sprichwörtlich gewordene Logik wissenschaftlicher Paradigmenwechsel zielte auf eines gerade nicht: auf eine schnelle Abfolge oder auch das Nebeneinander programmatischer ›turns‹. Kuhns wissenschaftstheoretisches Modell ist auf einen Raum der Latenz angewiesen; einen Raum, den er als ›Paradigma‹ bezeichnet und innerhalb dessen es einer bestimmten Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu einer bestimmten Zeit möglich ist, sich als Mitglieder einer Gemeinschaft zu betrachten. Es ist die Gesamtheit von Regeln und Normen, von Fragestellungen und Problemen, von Lehrmeinungen und Traditionen sowie von dem, was sich sagen und zeigen lässt, die die Grenzen eines solchen Paradigmas konstituiert. Hieraus bezieht es seine Stabilität. Latent zeichnet sich hierin aber zugleich ein Moment seiner Krise ab. Denn zuletzt sind es die in einem solchen paradigmatischen Forschungsraum immer auch eingeschlossenen Anomalien sowie das, was sich gerade nicht sagen und zeigen lässt, die diesen in nicht auflösbare Widersprüche führen, hierdurch destabilisieren und schließlich zum Einsturz bringen können. Die von Kuhn bereits im Titel seines Buches angekündigten und in ein solch historisches Modell von Forschungslogik integrierten wissenschaftlichen Revolutionen sind vor allem auf eines angewiesen: auf die relative Dauerhaftigkeit eines Paradigmas. Im Sinn von Kuhns Theorie des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts lassen sich solche Paradigmen als große Erzählungen fassen, die die Gesamtheit eines epistemischen Feldes konstituieren und strukturieren. Es steht außer Frage, dass auch den in unserer eigenen Gegenwart geführten Diskursen solche Meistererzählungen vorausgesetzt sind. Kuhns Gedanken von der latenten Präsenz eines Paradigmas entsprechend, lassen sich diese handlungsleitenden Narrative kaum vernehmen. Und nur selten werden sie als solche thematisch und kritisch befragt. Regelmäßig zur Debatte stehen jedoch jene sehr viel kleineren

1 Vgl. Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago, London 1962.

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Erzählungen, die als paradigmatische Wendungen oder eben ›turns‹ Einfluss auf den Gang zukünftiger Forschung nehmen sollen. Anders als in dem von Kuhn beschriebenen Wettstreit der Paradigmen treten sie gerade nicht miteinander in Konkurrenz. Sie fügen sich vielmehr zu einem Spektrum methodischer Perspektiven, um sich hierbei bestenfalls zu ergänzen und schlimmstenfalls in wechselseitiger Indifferenz nebeneinander zu existieren. In diesem Sinn ist es heute möglich, von einer polyphonen Gleichzeitigkeit verschiedener kleinerer Erzählungen zu sprechen; klein, da jede von ihnen einen thematisch fokussierten Zuschnitt besitzt. Gerade in einer solchen Fokussierung liegt ja der eigentliche Zweck jedes dieser methodischen »Drehmomente«.2 In den Blick nehmen sie (jeweils absichtsvoll summarisch formuliert) hierbei das Visuelle, das Performative, das Emotionale, das Akustische, das Postkoloniale, das Räumliche, das Kartographische, das Diagrammatische etc. Schnelligkeit und Varianz dieser paradigmatischen Forschungswenden fordern vor allem zweierlei he­­raus: zunächst einmal das Bedürfnis nach Übersicht. Gewiss kein Zufall ist es, dass wenigstens eine Auswahl solcher ›turns‹ als eine Gemeinschaft von ›cultural turns‹ zum Gegenstand eines Handbuchs geworden ist, das innerhalb von nur wenigen Jahren in mehreren Auflagen gedruckt wurde.3 Sodann aber wird oft genug davon gesprochen und wenigstens hinter vorgehaltener Hand auch beklagt wie gespottet, dass mit jedem weiteren programmatisch ausgerufenen ›turn‹ die hiermit verbundene Rhetorik des Neuen weiter an Spannkraft verlieren muss. Zielte Kuhns Begriff des Paradigmas auf die normative Geltung einer, bis zu ihrer ›revolutionären‹ Überwindung, sich als singulär und insofern ›normal‹ verstehenden Wissenschaft, so ist die mit dem Postulat eines ›turns‹ verbundene Vorstellung von einem neuen Forschungsparadigma kaum anders als im Plural denkbar. Wer von einem (oder seinem, ihrem) Paradigma spricht, sollte stets um die Relativität dieser (seiner, ihrer) Perspektive wissen und die diskursive Funktion innerhalb eines größeren Ganzen bestimmen können. Die Frage der Forschungsparadigmen, heißt dies, lässt sich in zweierlei Hinsicht diskutieren: als Normierung und als Differenzierung. Kuhns Verwendung des Begriffs zielt auf eine holistische Beschreibung des Erkenntnisfortschritts. Seinem erkennbar schematischen Modell folgend, vollzieht sich ein solcher Fortschritt nicht durch kontinuierliche Entfaltung, Steigerung und Anreicherung, sondern vielmehr in der historischen Folge von miteinander konkurrierenden,

2 Horst Bredekamp, »Drehmomente  – Merkmale und Ansprüche«, in: Christa Maar und Hubert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 15–26. 3 Vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, 52014.

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einander ablösenden, ja umstürzenden epistemischen Ordnungen. Die paradigmatischen ›turns‹ der jüngeren Zeit lassen sich demgegenüber als Versuche in­­terpretieren, innerhalb einer solchen Ordnung für neue Perspektiven zu argumentieren und hierdurch zu weiterer Differenzierung beizutragen. Jeder dieser programmatischen ›turns‹ lässt sich daher als Arbeit an der Struktur eines umfassenderen Forschungsparadigmas auffassen, das gerade nicht überwunden, sondern vielmehr optimiert werden soll. Im Übrigen stehen beide Wendungen des Begriffs ›Paradigma‹ in enger Beziehung zum Wortsinn des griechischen Sub­ stantivs παράδειγμα. Dieses bezeichnet ein Modell, ein Urbild (hier insbesondere in Platons Diktion), und meint Muster, Beispiel wie auch Beweis.4 Tatsächlich ist von einem ›Paradigma Fotografie‹ längst schon die Rede gewesen; und dies nicht zuletzt an prominenter Stelle (Abb. 1).5 Gewiss haben die in diesem (und in einem weiteren6) Sammelband zusammengestellten Texte keinen geringen Einfluss auf den weiteren Gang der Forschung zu Geschichte und Ästhetik der Fotografie genommen. So weit ich aber sehe, ist bislang noch niemand auf die Idee verfallen, im Zusammenhang mit einem solchen, hier in

Abb. 1: Adrian Sauer: Paradigma 1, 2009

4 Thomas Rentsch, Art. »Paradigma«, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 7, Basel, Stuttgart 1989, Sp. 74–81. 5 Vgl. Herta Wolf, Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Band 1, Frankfurt/Main 2002. 6 Vgl. Herta Wolf, Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Band 2, Frankfurt/Main 2003.

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Rede stehenden ›Paradigma Fotografie‹ zugleich einen ›photographic turn‹ postulieren zu wollen.7 Wenn ich auch im Folgenden keinesfalls die Absicht habe, für einen solchen ›turn‹ zu argumentieren, so ist dies nicht dem Wissen geschuldet, dass sich eine solche Rhetorik inzwischen ohnehin zu verbrauchen droht; ein solcher Vorschlag also, wenigstens in dieser sprachlichen Einkleidung, allemal sehr spät, wenn nicht sogar zu spät käme. Ich will auch nicht voraussetzungslos und aus meiner Sicht zu pauschal davon ausgehen, dass mit dem viel berufenen ›pictorial turn‹ die Vielfalt von Fotografien ja ohnehin immer schon mitgemeint gewesen sei, ein ›photographic turn‹ daher also kaum mehr als ein Subgenre einer solchen »Wiederkehr der Bilder«8 sein könne. Dennoch gibt es gute Gründe, von einem ›Paradigma Fotografie‹ zu sprechen. Denn mit einer solchen Rede wird, wie ich im Folgenden zeigen will, vom Beweis über das Beispiel bis hin zum Modell nicht allein das gesamte semantische Spektrum des Begriffs ›Paradigma‹ ausgeschritten. In der Vorstellung von einem ›Paradigma Fotografie‹ scheint eine grundlegend heuristische Funktion dieses Sprechens auf, die ich als eine dritte Wendung des wissenssoziologischen Begriffs ›Paradigma‹ vorschlagen möchte. Leitende Konzepte sind hierbei weder Normierung noch Perspektivierung. Es ist vielmehr die grundlegende und nicht von vornherein beantwortete Frage nach der Einheit des Forschungsgegenstands, die sich in der Rede vom ›Paradigma Fotografie‹ formuliert findet.

Beweis Als William Henry Fox Talbot im Jahr 1844 damit begann, in mehreren Lieferungen ein Tafelwerk zu publizieren, in dem er Bildbeispiele des von ihm erfundenen fotografischen Verfahrens gemeinsam mit kurzen Kommentaren präsentierte, war es seine erklärte Absicht, die Fotografie als ein qualitativ neues Bildmedium zu kennzeichnen. Das eigentümliche Stillleben (Abb. 2), das Talbot als Tafel III in The Pencil of Nature aufnahm, versteht sich in diesem Sinn als eine Gelegenheit, die juristischen Strategien der Beweisführung nunmehr auf eine bildmediale Grundlage zu stellen und durch die behauptete Beweiskraft näheren Aufschluss über die

7 Eine Einschränkung findet diese Bemerkung indes in einigen beiläufig formulierten Hinweisen von Hans Dam Christensen. Siehe seinen Artikel »The Repressive Logic of a Profession? On the Use of Reproductions in Art History«, in: Konsthistorisk tidskrift 79 (2010), S. 200–215, hier: S. 201. 8 Gottfried Boehm, »Die Wiederkehr der Bilder«, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11–38.

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Abb. 2: William Henry Fox Talbot: Articles of China, Tafel III aus The Pencil of Nature, 1844

Optionen dieser neuartigen Bilder zu erlangen. Erkennbar ein Angehöriger der ›gentry‹, imaginiert Talbot einen »Kenner und Sammler von altem Porzellan«,9 dem daran gelegen sein muss, Inhalt und Umfang seiner Sammlung durch einen Katalog zu verzeichnen. Wenn an die Stelle der »üblichen beschreibenden Inventare« nun das fotografische Bild tritt, so ist hierdurch nicht allein die Kontinuität der visuellen Form gewahrt. Die Möglichkeit, dem sichtbaren Sammlungsobjekt nicht allein eine lesbare Beschreibung, sondern eine sichtbare Reproduktion an die Seite zu stellen, boten ja bereits die druckgrafischen Verfahren. Gewonnen wird mit der Fotografie jedoch, so Talbots Argument weiter, ein wertvoller Überschuss, der eine bis dahin nicht gekannte Form der Beweisführung ermögliche. Denn der Kontinuität zwischen Sammlungsobjekt und fotografischer Abbildung fehle nun erstmals gerade jenes arbiträre Moment, das jede Künstlerhand, die einen Kupferstich, eine Lithographie etc. angefertigt, notwen-

9 William Henry Fox Talbot, The Pencil of Nature [1844–1846], hier zit. n.: Wilfried Wiegand (Hg.), Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, Frankfurt/ Main 1981, S. 45–89, hier: S. 62. Die folgenden Zitate ebd.

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digerweise in dieses Bild auch einschreibt. Oder positiv gewendet und Talbots eigener Metapher folgend: Nimmt nicht ein Künstler, sondern die Natur selbst den Zeichenstift in die Hand, wird eine sichtbare Form gewonnen, die für sich im Unterschied zu älteren Reproduktionsmedien mit guten Gründen Notwendigkeit beanspruchen kann.10 Sollte es also ein Dieb wagen, sich an einer solchen Sammlung wertvollen Porzellans zu vergreifen, so ist gegen ihn mit der Fotografie nunmehr eine »neue Art von Beweis« gefunden. Im Unterschied zum geschriebenen oder auch zum druckgrafischen Katalog werde es anhand der Fotografie und der durch sie vermittelten »stummen Zeugenaussage« vor Gericht möglich, einen weit besser begründete, ja einen zweifelsfreien Beweis gegen den hypothetischen Dieb zu erbringen. Talbots Kennzeichnung der Fotografie als nicht-arbiträres Abbildungsverfahren bedarf schon deshalb keiner umfassenden Herleitung und Erörterung, da mit ihr eine Vorstellung von fotografischer Bildlichkeit aufgerufen ist, die nicht allein jener Formationsphase des Mediums angehört, in die auch die Publikation von The Pencil of Nature (1844–1846) fällt. Die Idee der Autopoiesis, das heißt einer selbsttätigen, durch menschliche Intervention nicht gestörten Einschreibung der Wirklichkeit in das Bild, hat seit Talbots Beschreibung eines sich selbst erschaffenden Bildes,11 wie wenig plausibel auch immer, unverändert Anerkennung ge­­ funden. Überdies konnte sie sich hierbei auf wesentliche, weithin rezipierte Theorien des fotografischen Bildes berufen. Man sagt wohl kaum zu viel, wenn man behauptet, dass es in diesem Zusammenhang vor allem Roland Barthes’ schmaler Essay La chambre claire ist, der inzwischen seit mehreren Jahrzehnten fortgesetzt zur Rechtfertigung jener Beweiskraft dient, der den fotografischen Bildern eigen sein soll.12 »Jede Photographie«, so schreibt Barthes, »ist eine Beglaubigung von Präsenz. Die Beglaubigung ist das neue Gen, das diese Erfindung in die Familie der Bilder einführt.«13

10 Steffen Siegel, »Ausblick auf die große Gemäldefabrik. Entwürfe automatisierter Bildproduktion um 1800«, in: Olaf Breidbach, Kerrin Klinger und André Karliczek (Hg.), Natur im Kasten. Lichtbild, Schattenriss, Umzeichnung und Naturselbstdruck um 1800, Jena 2010, S. 8–30. 11 Kelley Wilder, »William Henry Fox Talbot und the Picture which makes ITSELF«, in: Friedrich Weltzien (Hg.), von selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 189–197. 12 Zur bemerkenswerten Rezeption, die dieses Buch seit seinem Erscheinen erfahren hat, siehe insbesondere Ronald Berg, Die Ikone des Realen. Zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001. Geoffrey Batchen, Photography Degree Zero. Reflections on Roland Barthes’s »Camera Lucida«, Cambridge Mass., London 2009. Katharina Sykora und Anna Leibbrandt (Hg.), Roland Barthes Revisited. 30 Jahre »Die Helle Kammer«, Köln 2012. 13 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/Main 1985, S. 97.

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Vielleicht ist Barthes schon deshalb ein so prominenter Gewährsmann für die Beweiskraft der Fotografie, da er es verstand, diesen Aspekt seiner Theorie auf eine überaus griffige Formel zu verkürzen. Sechs Buchstaben und zwei Bindestriche genügen, um das Paradox einer dauerhaft ins Bild getretenen Vergangenheit zu beschwören: »ça-a-été«.14 Erstaunlich ist im Übrigen, dass diese Formel, die sich wohl am besten mit »dies-ist-gewesen« wiedergeben lässt, in der gängigen deutschen Übersetzung, bereits stark interpretierend, als »Es-ist-so-gewesen« erscheint und hierdurch einiges von ihrem lehrbuchhaften Zuschnitt verliert. Weit erstaunlicher aber scheint mir, dass Barthes seinem »›ontologischen‹ Wunsch«,15 von dem er seine ganze Bemerkung zur Fotografie herleitet, so sehr nachzugeben bereit ist, dass er das Offensichtliche zu sehen nicht mehr bereit oder in der Lage ist. Um zu verdeutlichen, was mit dem »neuen Gen« der Fotografie gemeint sei, verweist Barthes auf einen der frühesten, bis zum Beginn der 1820er Jahre zurückreichenden fotografischen Versuche (Abb. 3): »Die ersten Photos, die ein Mensch betrachtete (Niepce [sic!] vor dem Gedeckten Tisch beispielsweise), mußten ihm Gemälden zum Verwechseln ähnlich erscheinen.«16 Keine Rede ist hier von jenem undeutlichen, fleckenhaften Schwarz-Weiß, das

Abb. 3: Nicéphore Niépce: Stillleben, ca. 1823–1825, Reproduktion nach einem verschollenen Original

14 Roland Barthes, La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980, S. 120. 15 Barthes, Die helle Kammer, S. 11. 16 Ebd., S. 97.

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dieser sehr frühen Bildprobe (wenigstens in ihrer heute nur noch indirekten, gewissermaßen gerüchteweisen Überlieferung, die auch Barthes’ Bemerkung vorausgesetzt war17) eigen ist und die sich mit der farbigen Brillanz eines gemalten Stilllebens eher nicht verwechseln lässt. Was sich hier als Dialog innerhalb der Ordnung älterer und neuerer Bildmedien ereignet, besitzt bei Barthes Relevanz für die Wahrnehmung fotografischer Bildlichkeit überhaupt. Die in Frage stehende Verwechslung wird nicht einfach nur in Kauf genommen, sie ist vielmehr Kennzeichen einer auf Ähnlichkeiten ausgerichteten Bildbetrachtung. Getragen wird sie hierbei von dem Wunsch, wenigstens auf dem Weg der Imagination gerade jene historische Distanzierung zu überwinden, die sich in der Formel »ça-a-été« ausgedrückt findet. Der Blick auf die Fotografie ist bei Barthes das Instrument einer Vergegenwärtigung, die jede durch das Bildmedium bedingte Differenz unterdrückt, um das Ähnliche zum Identischen umzuformen. Geforscht wird in den fotografischen Bildern hierbei nach Möglichkeiten einer Kontaktnahme und, kaum verstellt, nach Gelegenheiten eines frivolen Blickwechsels. Keinesfalls zufällig wird Die Helle Kammer daher mit einer autobiographischen Anekdote eröffnet, die von einer Blickzirkulation berichtet. Mit Jérôme, dem jüngeren Bruder Napoleons, in einen visuellen Dialog zu treten, soll hierbei bedeuten, jenen zeitlichen Abstand von 127 Jahren überspringen zu können, der sich zwischen der auf das Jahr genau datierten Fotografie (1852) sowie dem Augenblick von Barthes’ Bildbetrachtung beziehungsweise ihrer Formulierung (1979) öffnet. Wenn Barthes bereits ganz zu Beginn in Die Helle Kammer das Modell einer Produktion von Präsenz anhand der Betrachtung fotografischer Bilder beispielhaft vorführt, so lohnt es, sogleich auf die letzten Seiten dieses Buches weiter zu blättern. Denn hier findet sich eine Erinnerung daran, dass solche Versuche der Vergegenwärtigung mehr sind als eine bloße Naivität, mit der das Niveau medientheoretischer Erörterung unterlaufen oder gar ignoriert wird. Es handelt sich vielmehr um einen programmatisch gemeinten Versuch, gegen alle medienkritische Erziehung bei der Betrachtung von Fotografien unvernünftig zu sein und jener »Verrücktheit« Raum zu geben, »die unablässig im Gesicht des Betrachters auszubrechen droht«.18 Was es hierbei heißen könnte, »das Signum der Zeit ins verliebte und erschreckte Bewußtsein dringen«19 zu lassen, hatte Barthes bereits

17 Ulfert Tschirner, »Historische Photographie und historiographische Reproduktion. Paradoxe Konstellationen der Photogeschichtsschreibung«, in: Butis Butis (Hg.), Goofy History. Fehler machen Geschichte, Köln, Weimar, Wien 2009, S. 147–167. 18 Barthes, Die helle Kammer, S. 128. 19 Ebd. [Hervorhebung im Orig.].

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zuvor anhand verschiedener Bildbetrachtungen demonstriert. Wie eng die Zu­­ stände des verliebt und erschrocken Seins hierbei aneinander grenzen, wird wohl an keinem Bildbeispiel so deutlich wie an jener Fotografie, die jenen Lewis Payne zeigt, der seiner eigenen Hinrichtung entgegensieht (Abb. 4). Die Erschütterung, die Barthes bei Betrachtung dieses Bildes an sich selbst beobachtet, hat ihre Ursache in der Unmöglichkeit der Erfüllung eines Begehrens,20 das sich auf eine Zukunft richtet. Diese ist im Fall des Attentäters Payne bereits 1865 vom Scharfrichter beendet worden.

Abb. 4: Der Attentäter Lewis Thornton Powell (Payne), aufgenommen als Häftling im Washington Navy Yard, District of Columbia, 1865

20 Kris Cohen, »Locating the Photograph’s ›Prick‹: A Queer Tropology of Roland Barthes’s Camera Lucida«, in: Chicago Art Journal 6.1 (1996), S. 5–14.

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Barthes’ Rezeptionsmodell einer »photographischen ›Ekstase‹«,21 die sich an einer ins Bild getretenen Vergangenheit entzündet und diese durch eine paradoxale Umwendung des »Lauf[s] der Dinge«,22 gewissermaßen im historischen Rückwärtsgang, wiederzuerlangen sucht, ist ausdrücklich und in programmatischer Absicht unter dem Vorzeichen einer willentlich angenommenen »Verrücktheit« (»la folie«) geschrieben worden. Gerade dann aber, wenn von der Beweiskraft der Fotografie die Rede ist und hierfür Die helle Kammer als ein besonders gewichtiger theoretischer Zeuge aufgerufen wird, sollten diese von Barthes für sein theoretisches Programm formulierte Bedingung gesuchter Unvernunft nicht vergessen werden. Denn was genau jenes »ça« gewesen sein mag, von dem die Formel »ça-a-été« so beschwörend spricht, ist für Barthes’ Entwurf einer Präsenzerzeugung zuletzt keinesfalls wesentlich. Vergegenwärtigung im Angesicht des fotografischen Bildes ist ein Zusammenspiel von Auge und Imagination des Be­­ trachters. Beide haben ihre eigene Bedingungen und Absichten, und beide tragen sich selbst in Prozess wie Ergebnis einer solchen Vergegenwärtigung des im Bild Sichtbaren ein. Von einer ›Wahrheit der Fotografie‹ zu sprechen, bedeutet daher, sehr sorgfältig formulieren zu müssen. Die Authentizität des fotografischen Bildes lässt sich nicht an dessen sichtbarem Datum ablesen. Sie wird vielmehr als die Vorstellung, mit den Dingen, die es zeigt, auf notwendige, nicht arbiträre Weise verhaftet zu sein, diesem Bild beigelegt. Jede Wahrnehmung sichtbarer Formen beruht auf Interpretation. Diese Bedingung für das fotografische Bild zu negieren und ihm statt dessen die Fähigkeit zu einer direkten, unverstellten Vermittlung des Wirklichen zuzuschreiben, ist mit guten Gründen als »weiße Mythologie der Fotografie« kritisiert worden.23 Keinesfalls zufällig brachte Michael Charlesworth in seiner Dekonstruktion einer solchen Annahme insbesondere William Henry Fox Talbot in Zusammenhang mit einer solchen »weißen Mythologie«. Angesichts der spärlichen Verbreitung und, hiermit einhergehend, einer zunächst mangelnden Reichweite von The Pencil of Nature24 ginge man gewiss zu weit, wollte man behaupten, dass es ausgerechnet die in diesem Buch versammelten Bildkommentare seien, die für die theoretische

21 Ebd., S. 130. [Hervorhebung im Orig.]. 22 Ebd. 23 Michael Charlesworth, »Fox Talbot and the ›White Mythology‹ of Photography«, in: Word & Image 11 (1995), S. 207–215. 24 Siehe hierzu insbesondere Larry J. Schaaf, »Introductory Volume: Historical Sketch, Notes on the Plates, Census«, in: William Henry Fox Talbot (Hg.), The Pencil of Nature, New York 1989, ders., »Henry Fox Talbot’s ›The Pencil of Nature‹. A Revised Census of Original Copies«, in: History of Photography 17 (1993), S. 388–396, ders., »Third Census of H. Fox Talbot’s ›The Pencil of Nature‹«, in: History of Photography 36 (2012), S. 99–120.

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Konzeption des Fotografischen maßgebend waren. Talbots Rang als Begründer einer solchen »weißen Mythologie« von der Beweiskraft des fotografischen Bildes bemisst sich viel mehr in der exemplarischen Geltung seiner Kommentare. Sie gaben einem im Lauf des 19. Jahrhunderts (und da­­rü­ber hi­­naus) kurrenten Wahrnehmungsmodell präzise Worte. Es sollte hierbei indes nicht überlesen werden, dass Talbot angesichts der Frage nach der Beweiskraft der Fotografie keinesfalls das letzte Wort behalten wollte. Wie gerichtsfest diese tatsächlich sein könne, entzog sich den Kenntnissen des Privatgelehrten, der sich auf Lacock Abbey vor allem mit naturwissenschaftlichen und altertumskundlichen Studien befasste. Er wollte es vielmehr »juristisch geschulten Köpfen [überlassen], da­­rü­ber nachzusinnen, was Richter und Geschworene dazu sagen würden.«25 Tatsächlich sollte es nach diesen bereits im Jahr 1844 geschriebenen Worten noch mehrere Jahrzehnte dauern, bis die hier angesprochenen Richter und Ge­­ schworenen bereit waren, in der Fotografie ein valides Instrument der Beweisführung zu erblicken.26 Evidenz, auch die fotografische, steht nicht am Beginn, sondern am Ende eines Prozesses. Dessen wesentliche Aufgabe ist es, auf dem Weg diskursiver Aushandlung auf jene Bedingungen hinzuarbeiten, die es überhaupt erst möglich machen, von der vermeintlichen Selbsttätigkeit des fotografischen Prozesses eine Selbstverständlichkeit seines Ergebnisses, der Fotografie also, abzuleiten. Zu jenem Stil der Objektivität, der sich in diesem Zusammenhang ausbildete,27 gehört es nicht zuletzt, die fotohistorisch bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts wohl vertrauten und überdies weit verbreiteten Praktiken von Mehrfachbelichtung und Montage, von Retusche und Nachbearbeitung entweder als Voraussetzungen von Objektivität zu rechtfertigen, hinsichtlich ihrer Bedeutung zu relativieren oder aber diese kurzerhand zu negieren. Die Beweiskraft des fotografischen Bildes ist das Produkt eines Diskurses, der auf ebenso grundsätzliche wie folgenreiche Weise an einer Ästhetik und einem hierzu gehörenden Wahrnehmungsmodell objektiver Bildlichkeit arbeitete.28 Sie ist, so hatte bereits Charlesworth unterstrichen, eine historische und kulturelle Konstruktion, die von außen an die Fotografie herangetragen worden ist.29

25 Wie Anm. 9. 26 Hierzu ausführlich Gerhard Plumpe, Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990, vor allem S. 53–95. 27 Vgl. Lorraine Daston und Peter Galison, Objectivity, New York 2007. 28 Vgl. Anja Zimmermann, Ästhetik der Objektivität. Genese und Funktion eines wissenschaftlichen und künstlerischen Stils im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2009. 29 »That view of photography is a historical and cultural construction, imposed on photographs from outside.« Charlesworth, Fox Talbot and the ›White Mythology‹, S. 214.

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All dies ist längst, wie es scheint, seinerseits kaum mehr als eine historisch gewordene Form, über das Fotografische nachzudenken. Wer heute, in einer Zeit der digitalen Bildlichkeit über Fotografien spricht, weiß sehr genau um die prinzipielle Dehnbarkeit der fotografischen Form.30 Die Möglichkeit, womöglich sogar der Verdacht der Manipulation gehören längst zum Standard eines Sprechens über das Fotografische. Und wo sich ein altes Begehren, das sich an die Fotografie lange Zeit geknüpft hatte, doch noch einmal artikulierte, hat es sogleich eine souveräne Antwort erhalten. Kein anderer als Barack Obama war es, der den Zusammenhang von Fotografie und Beweis wirkungsvoll in Abrede stellte. Trotz der laut erhobenen Forderungen, eine Aufnahme des am 2. Mai 2011 in Pakistan gestellten und getöteten Osama bin-Laden zu publizieren, war der US-Präsident nicht bereit, einem solchen Verlangen nachzugeben. Er begründete dies nicht allein mit einem Verweis auf die durch eine solche Provokation hervorgerufene Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Obama zog vielmehr in Zweifel, dass die Publikation eines solchen Bildes zur Beglaubigung der in Frage stehenden Ereignisse in Abbottabad tatsächlich etwas hätten beitragen können. Als solle dieser Satz seine endgültige Beglaubigung finden, wurde zu gleicher Zeit eine Fotografie im Internet verbreitet, die nach allem, was wir wissen können, gerade das nicht ist, was sie zu sein vorgibt: ein Beweis für den Tod des lange gesuchten Terroristen.31

Beispiel Im Jahr 2002 gab es einigen Anlass, im Titel eines Buches vom »Paradigma Fotografie« (Abb. 1) zu sprechen. Sie werden im Untertitel jenes Bandes formuliert: »Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters«.32 Aus dem Abstand von mehr als einem Jahrzehnt erscheinen solche medienapokalyptischen Reden eigentümlich unzeitgemäß und lassen sich schnell als irreführend abtun. Schließlich hat doch kaum etwas die Entwicklung des Mediums so sehr befeuert wie die Digitalisierung des fotografischen Bildes. Einwenden lässt sich indes zum Ersten, dass die Herausgeberin des Sammelbandes mit einer solchen Prognose seinerzeit kei-

30 In diesem Sinn sprach bereits Fred Ritchin von der »malleability«  – der Dehnbarkeit oder Verformbarkeit – der digitalen Fotografie. Fred Ritchin, After Photography, New York, London 2009, S. 53. 31 Ich verzichte an dieser Stelle ganz ausdrücklich auf eine Reproduktion dieses Bildes, das sich aber ohne große Mühe auf zahllosen Websites finden lässt. 32 Vgl. Wolf, Paradigma Fotografie.

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nesfalls alleine stand. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre stellte Fred Ritchin eine Revolution des fotografischen Bildes in Aussicht33 und sprach William J. Mitchell von der »post-fotografischen Ära« der Fotografie.34 Zum Zweiten aber folgte die Rhetorik des ›Post‹ oder des ›Endes‹ einer Logik, die Geoffrey Batchen überaus prägnant zusammenfasste: »after not beyond«.35 Oder mit dem Titel eines herausragenden, für das Thema einschlägigen Ausstellungskatalogs gesprochen: Es gibt eine Fotografie nach der Fotografie.36 In solchen Formulierungen eines Vorher und eines Nachher tritt ein Bruch (oder wahlweise ein ›turn‹) in Erscheinung. Ernst nehmen lässt er sich auf zweierlei Weise. Einerseits wird mit ihm die medientechnologische Wende von der analogen zur digitalen Fotografie angesprochen. Andererseits aber zeichnet sich anhand dieses Bruchs ein Prob­lem ab, das jedem Sprechen über die Fotografie vorausgesetzt ist. Von ›der Fotografie‹ (im Singular) zu sprechen, bedeutet, sich, willentlich oder nicht, auf Abstand zu den in Frage stehenden Bildern zu halten. In eben der Weise, wie ›die Literatur‹ oder ›die Malerei‹ jeweils auf etwas Übergreifendes zielen, stellt auch der Name der ›Fotografie‹ eine Referenz von sehr allgemeiner Geltung her.37 Als John Frederick William Herschel am 14. März 1839 vor der Royal Society einen Vortrag unter dem Titel Note on the Art of Photography hielt,38 war er nicht allein einer der ersten, der die nur wenige Wochen zuvor erstmals publizierten fotografischen Verfahren öffentlich einer wissenschaftlichen Diskussion un­terzog. Anlässlich dieses Vortrags ist zugleich zum ersten Mal öffentlich von der ›Fotografie‹ unter eben diesem Namen die Rede.39 Zunächst einmal lag es hierbei

33 Vgl. Fred Ritchin, In Our Own Image. The Coming Revolution in Photography. How Computer Technology Is Changing Our View of the World, New York 1990. 34 Vgl. William J. Mitchell, The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge Mass., London 1992. 35 Geoffrey Batchen, »Post-Photography«, in: ders., Each Wild Idea. Writing, Photography, History, Cambridge Mass., London 2001, S. 108–127, hier: S. 109. 36 Vgl. Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut und Florian Rötzer (Hg.), Fotografie nach der Fotografie, Dresden, Basel 1995. 37 Steffen Siegel, »Der Name der Fotografien. Zur Entstehung einer Konvention«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 7 (2013), Heft 1: »Namen«, S. 56–64. 38 Larry J. Schaaf, »Sir John Herschel’s 1839 Royal Society Paper on Photography«, in: History of Photography 3 (1979), S. 47–60. Für eine deutsche Übersetzung siehe Steffen Siegel (Hg.), Neues Licht. Daguerre, Talbot und die Veröffentlichung der Fotografie im Jahr 1839, München 2014, S. 179–187. 39 Dass bereits drei Wochen vor Herschel in der Berliner Vossischen Zeitung von der ›Photographie‹ die Rede gewesen ist, gab in der Zwischenkriegszeit die Gelegenheit zu einer nationalistisch motivierten Kontroverse. Erich Stenger insistierte, dass es ein Deutscher (vermutlich Johann Heinrich Mädler) gewesen sei, der dem Medium zuerst seinen später gültigen Namen

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in Herschels Absicht, der von Talbot für seine Bilder eingeführten Bezeichnung der ›fotogenischen Zeichnung‹ (›photogenic drawing‹) eine weniger umständlichere entgegenzusetzen. Schnell aber meinte die ›Kunst der Fotografie‹, von der Herschel sprach, bedeutend mehr als einzig ein ganz bestimmtes Bildverfahren. Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie vielfältig, aber eben auch unübersichtlich sich das fotografische Terrain zu dieser frühen Zeit tatsächlich entwickelte, genügt es, einen Blick auf das Titelblatt eines kleinen Anleitungsbüchleins zu werfen (Abb. 5). 1844 veröffentlichte ein gewisser G. T. Fischer sein gerade einmal sechzig Seiten starkes Manual, das einen »gründlichen Unterricht in Theorie und Praxis« dieser neuen Bildkunst in Aussicht stellt. Hierbei werden im Untertitel des Buches nicht weniger als acht verschiedene fotografische Verfahren aufgezählt, deren Besonderheiten auf den folgenden Seiten sodann knapp

Abb. 5: G. T. Fischer, Photogenische Künste, Leipzig, Pesth 1844, Spread des Titelblatts

gab. Siehe Erich Stenger, »The Origin of the Word Photography«, in: The British Journal of Photography 74, Nr. 3777 (Sept. 1932), S. 578–579, Pierre G. Harmant, »La fin d’une polémique: Le mot Photographie«, in: Photo-Revue (Apr. 1976), S. 191–192.

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erläutert werden sollen.40 Nicht zuletzt zeigt der von Fischer gewählte Haupttitel, dass sich mit Blick auf diese neuen Bilder terminologische Sicherheit erst allmählich einstellen sollte. Spricht dieser doch in einem zusammenfassenden, übergreifenden Sinn von den Photogenischen Künsten. Der uns heute weit geläufigere Name der ›Photographie‹ indes bezeichnet hier noch eines jener speziellen Verfahren, die sich im Untertitel aufgereiht finden. Entscheidend aber ist, dass hinter den verschiedenen Begriffen zugleich sehr verschiedene Verfahren stehen, die nie anders als beispielhaft für das umfassende Ganze des Bildmediums ›Fotografie‹ stehen. Nicht erst mit der Wende von der analogen zur digitalen Fotografie, die in unsere eigene Zeit fällt, zeichnen sich erhebliche Differenzen im weiten Feld des Fotografischen ab. Bereits ein Blick auf die Formationsphase dieses Mediums genügt, um eine Vorstellung von jener Varianz zu erlangen, die sich hinter der vereinheitlichenden Rede von der ›Fotografie‹ (im Singular) tatsächlich öffnet. So haben etwa die von Louis Jacques Mandé Daguerre in bemerkenswerten Geschäftssinn nach sich selbst benannte Daguerreotypien mit Talbots (seit dem Herbst 1840 entstandenen) Kalotypien, die auch Talbotypien genannt wurden, ebenso viel gemeinsam, wie zwischen diesen Verfahren zugleich Trennendes steht. Die sich bereits hier abzeichnende, in der Folgezeit vollends entfaltete Vielfalt fotografischer Verfahren ist es, die als ein wesentliches Kennzeichen dieses Mediums benannt werden muss. Eine Ge­­ schichte der Fotografie anhand ihrer Verfahren und Materialien zu schrei­ben, bedeutet daher zwangsläufig, eine Vielzahl einzelner, nach- und nebeneinander geordneter Geschichten konzipieren zu müssen. Benannt ist hiermit tatsächlich gerade jenes Modell, das lange Zeit die den fotografischen Medien geltende Historiographie und Ausstellungspraxis be­­ herrschte. Das von Josef Maria Eder seit 1884 in nicht weniger als sechzehn Teilbänden vorgelegte und sodann bis 1932 in immer neuen Auflagen erschienene Ausführliche Handbuch der Photographie etwa lässt sich seiner Struktur nach durchaus als eine auf 8.411 Seiten erweiterte Fassung jenes Modells begreifen, das bereits vier Jahrzehnte zuvor in schmalen Manualen wie Fischers Photogenischer Kunst in weit bescheidenerem Umfang entwickelt worden war.41 In aller Ausführ-

40 Vgl. G. T. Fischer, Photogenische Künste. Gründlicher Unterricht über die Theorie und Praxis des Daguerreotypiren, Photographiren, Kalotypiren, Cyanotypiren, Ferrotypiren, Anthotypiren, Chrysotypiren, Thermographiren, mit Einschluss der Kunst farbige Daguerreotyp-Portraits hervorzubringen, Leipzig, Pesth 1844. 41 Eine gute Übersicht zur Struktur von Eders »Ausführlichem Handbuch« mit einzelnen bibliographischen Nachweisen findet sich bei Matthias Bickenbach, »Die Unsichtbarkeit des Medienwandels. Soziokulturelle Evolution der Medien am Beispiel der Fotografie«, in: Wilhelm Voßkamp und Brigitte Weingart (Hg.), Sichtbares und Sagbares, Köln 2005, S. 105–139, hier: S. 132.

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lichkeit bereitet Eder die technologische Varianz, die sich hinter dem Namen der Fotografie verbirgt, in seinem Handbuch auf und bringt sie zugleich, insbesondere im ersten Teilband zur Geschichte der Photographie, in eine chronologische Ordnung. Deutlicher noch formuliert findet sich dieses Modell schließlich in Erich Stengers erstmals 1938 publizierter Gesamtdarstellung Die Photographie in Kultur und Technik,42 die zwölf Jahre da­­rauf in einer Neubearbeitung unter dem weit sprechenderen Titel Siegeszug der Photographie erschien.43 Ohne dies an einer Stelle in diesem »Buche mittleren Umfangs«44 eigens zu thematisieren, soll aus der Vielzahl jener von Stenger gesammelten »Stichproben«45 das für die Entwicklung der Fotografie Richtungsweisende hervortreten. Wohin genau ein solcher »Siegeszug« zuletzt aber führen könne, bleibt bei Stenger unausgesprochen.46 Ebenso wenig erörtert wird hier (wie in vergleich­ baren Übersichtswerken) die Frage, was in einer solchen Folge sich ablösender fotografischer Technologien zuletzt jenes Gemeinsame ist, das den übergreifenden Namen der Fotografie rechtfertigen würde. Die einfache Frage also, was Fotografie überhaupt ist, produziert, wie es scheint, gerade jenen Abstand vom konkreten einzelnen Bild, der sich mit einer an technologischen Fakten interessierte Mediengeschichtsschreibung nicht verträgt. Es war erst jüngst James Elkins, der da­­rauf beharrte, dass es gleichwohl sinnvoll ist, eine solche ins Allgemeine weisende Frage zu stellen. Bereits der Titel seiner im Umfang eines Buches gegebenen Antwort zeigt die grundsätzliche Absicht seines Erkenntnisinteresses an: What Photography Is.47 Weder interessiert sich Elkins sonderlich für die Vielfalt fotografischer Technologien noch hält er eine nähere Betrachtung von Sujets und Ikonografien für sinnvoll, die insbesondere ein kunsthistorisch geschulter Blick in der Vielfalt dieser Bilder suchen mag. Im Gegenteil wird bei Elkins mit beinahe provozierender Geste gerade das in programmatischer Absicht wortwörtlich verabschiedet (»farewell«),48 was viele (vielleicht die meisten) an der Fotografie

Siehe insbesondere aber auch Josef Maria Eder, Photographie als Wissenschaft. Positionen um 1900, hrsg. v. Maren Gröning und Ulrike Matzer, München 2013. 42 Vgl. Erich Stenger, Die Photographie in Kultur und Technik. Ihre Geschichte während hundert Jahren, Leipzig 1938. 43 Vgl. Erich Stenger, Siegeszug der Photographie in Kultur, Wissenschaft und Technik, Seebruck am Chiemsee 1950. 44 Ebd., S. 11. 45 Ebd. 46 Zu Stengers historiographischem Modell siehe ausführlich Bodo von Dewitz: »›… sich von einer Arbeit durch eine andere erholen …‹. Erich Stenger und seine Geschichte der Fotografie«, in: Fotogeschichte 17 (1997), Heft 64, S. 3–18. 47 Vgl. James Elkins, What Photography Is, New York 2011. 48 Ebd., S. 99–113.

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besonders schätzen: ihre Fähigkeit, durch das Abgebildete Erinnerungen zu stimulieren und die Möglichkeit, bei Betrachtung solcher Bilder Geschichten zu imaginieren. Gerade das Modell einer »›photographischen Ekstase«, wie es Barthes in Die helle Kammer entwarf, hält Elkins für ganz besonders ungeeignet, um über die Fotografie tatsächlich mehr als das Offensichtliche zu erfahren. Sowohl seinem Inhalt nach als auch hinsichtlich der gewählten Form ist What Photography Is ein erstaunliches Buch: Zum einen unternimmt Elkins hierin eine möglichst getreue Mimikry von Die helle Kammer. Die Drucktypen und Bildunterschriften, die stenografischen Literaturhinweise und die in den Text lose eingestreuten Abbildungen – all dies ist minutiös an dem um dreißig Jahre älteren Vorbild ausgerichtet. Zum anderen aber bleibt der in den Text eingeschriebene persönliche Tonfall und die hierher gehörende Gattung der Bildmeditation erhalten. Denn noch einmal will Elkins zu jener Versuchsanordnung zurückkehren, die bereits Barthes beim Schrei­ben seines Essays eingerichtet hatte. Das eigene Wahrnehmungserlebnis im Angesicht einzelner Fotografien soll Vo­­raus­set­zung wie Kriterium für ein allgemeines Sprechen über das fotografische Bild sein. Das Ergebnis indes, das Elkins hierbei erzielt, unterscheidet sich von Barthes’ Methode der Vergegenwärtigung einer durch das Bildsujet transportierten Vergangenheit auf grundlegende Weise. Um mehr von dem zu erfahren, »was Fotografie ist«, kehrt Elkins, ohne diese historischen Wurzeln indes eigens zu thematisieren, zu einer Methode der Bildbetrachtung zurück, die bereits ganz am Beginn der Fotografie-Geschichte Bedeutung erlangte. Ihr Prinzip ist die übergroße Annäherung an das Bild und das Examen jedes noch so kleinen zu diesem Bild gehörenden Details.49 Durch zeitgenössische Berichte ist bekannt, dass schon Daguerre bei Vorführungen des von ihm erfundenen Bildverfahrens seinem Publikum eine Lupe zu reichen pflegte, um das Staunen über die Aufzeichnungspräzision ein weiteres Mal zu steigern. Und wer seinerzeit nicht selbst in Paris an einer solcher Präsentation teilnehmen konnte, dem blieben Berichte wie jener aus Cottas Kunst-Blatt vom September 1839: »Die schärfste Loupe, welche so viele Illusionen zerstört und uns oft in den zartesten, luftigsten Meisterwerken schreckliche Dinge und Ungeheuer entdecken läßt, prüft und mustert vergebens diese Kunstprodukte, welche alle Proben ihrer genauesten Untersuchungen aushalten und alle bösen Absichten ihrer durchbohrendsten Blicke vereitelt. Das Vergrößerungsglas macht im

49 Siehe Plumpe, Der tote Blick, S. 38–52. Jens Ruchatz, »Von Überraschungen«, in: Oliver Fahle (Hg.), Störzeichen. Das Bild angesichts des Realen, Weimar 2003, S. 37–55; bes. S. 39–42. Steffen Siegel, Belichtungen. Zur fotografischen Gegenwart, München 2014, S. 23–37.

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Gegentheil den unermeßlichen Vorzug dieser von den Strahlen des Tagslichts gestochenen Kupferstiche nur noch einleuchtender; wir entdecken mit jedem Schritt immer neue, immer köstlichere Einzelheiten und unendlich viele Feinheiten und Nüanzirungen, welche dem unbewaffneten Auge in der Wirklichkeit entschlüpfen.«50 Zum Prinzip des Fotografischen vorzudringen, heißt hier, in Eduard Kolloffs Bericht aus Paris, den sichtbaren Zusammenhang des Bildes, sein Sujet, hinter sich zu lassen und statt dessen jene Textur in den Blick zu nehmen, die das »unbewaffnete Auge« gar nicht hätte fassen können. Kolloff formulierte zugleich das Programmwort einer solchen Recherche im internen Gefüge des Bildes: »wir entdecken mit jedem Schritt immer neue, immer köstlichere Einzelheiten und unendlich viele Feinheiten und Nüanzirungen«. In eben jenen Tagen, da der aus Paris für Cottas Zeitung berichtende Korrespondent dies schrieb, machte der umtriebige Daguerre dem Bayerischen König drei Proben der von ihm erfundenen Bildkunst zum Geschenk, die kurz da­­rauf im Münchner Kunstverein erstmals öffentlich ausgestellt werden. Auch der für die Allgemeine Zeitung über diese Präsentation berichtende Rezensent vergisst nicht, »die beispiellose Präcision und die reinste Spiegelung der feinsten und kleinsten Details«51 in jenen Bildern zu erwähnen. Zugleich aber scheint dieser namenlos gebliebene Münchner Journalist nicht so genau hingesehen zu haben wie ein anderer Autor, der bereits ein halbes Jahr zuvor auf eine Besonderheit jenes »Ausblicks auf den Boulevard du Temple« (Abb. 6) verwies, der Ludwig I. übereignet wurde. Auf diesem Bild »befindet sich ein Mann, der sich die Stiefel reinigen läßt; er muß sich dabei sehr ruhig verhalten haben, da er ganz deutlich dargestellt ist, während der Stiefelputzer seiner unaufhörlichen Bewegung wegen ganz verschwommen und unkenntlich erscheint.«52 Was hier, im März 1839, erstmals beobachtet wurde, hat seither kaum ein Werk zur frühen Fotografie-Geschichte unerwähnt gelassen. Trotz der anfänglich sehr langen Belichtungszeiten scheint es in dieser Aufnahme gelungen zu sein, wie winzig und beiläufig auch immer, das Bild eines (genau genommen: zweier) Menschen einzufangen. Wie wenig die Faszination für, mit Kolloff gesprochen, solche »köstlichen Einzelheiten« von ihrer Aktualität verloren hat, wird aber

50 Ludwig Schorn und Eduard Kolloff, Der Daguerrotyp. Kunst-Blatt, Beilage zum: Morgenblatt für gebildete Leser 20 (1839), Nr. 77 (Sept. 1839), S. 305–308, hier: S. 306. Wieder abgedruckt in Siegel, Neues Licht, S. 350–355. 51 Anonymus, Daguerre’s Lichtbilder, Allgemeine Zeitung (Augsburg) (23. Oktober 1839), Beilage, Nr. 231. Wieder abgedruckt in Siegel, Neues Licht, S. 356–357. 52 Anonymus, »Die Lichtbilder Daguerre’s«, in: Das Pfennig-Magazin der Gesellschaft zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse 7 (1839), Nr. 312 vom 23. März 1839, S. 89–91, hier: S. 91.

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Abb. 6: Louis Jacques Mandé Daguerre: Boulevard du Temple, acht Uhr morgens, ca. 1838, Reproduktion nach einem zerstörten Original

dann vollends deutlich, wenn man nicht allein die Kompendien zur FotografieGeschichte konsultiert, sondern sich überdies im Internet auf die Suche begibt.53 Es war der in Boston lebende Grafiker Charles Leo, der in seinem Blog davon berichtet, dass er in der Nacht des 28. Oktober 2010 zufällig auf Daguerres Aufnahme des Boulevards gestoßen sei und sich seinerseits in die Details dieses Bildes vertieft habe. Auch er entdeckt schnell jenen Mann, der sich die Stiefel putzen lässt. Doch gibt sich Leo hiermit nicht zufrieden und stellt fest: »As I looked, I quickly realized that I would have to clean-up this image and make some further adjustments to reveal more detail.«54 Tatsächlich scheinen sich in diesem Bild, sieht man denn nur ganz genau hin, eine ganze Reihe weiterer, bisher übersehener Details aufspüren zu lassen. Nur wenige werden wohl bislang wahrgenom-

53 Das Folgende habe ich ausführlicher dargestellt in: Steffen Siegel, »Was Fotografie ist. Zur Praxis der Fotografie-Theorie«, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 32 (2012), Heft 124, S. 90–96. 54 http://www.lunarlog.com/colorized-boulevard-du-temple-daguerre/ [Letzter Zugriff: 26.04.2014].

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men haben, dass sich das Haus im rechten Bildhintergrund in einem ruinösen Zustand befindet und womöglich kurz vor seinem Abriss steht. Vielleicht hat Leo mit seiner Beobachtung recht, dass die entlaubten Bäume im Vordergrund da­­rauf schließen lassen, dass diese Aufnahme zur Herbst- oder Winterzeit entstanden sein muss. Sodann aber fordert Leo dieses Bild geradezu he­­raus. Seine Suche fördert eine Fülle von Beobachtungen zu Tage, die bisher noch niemand in dieser Weise formulierte. Am linken Bildrand meint er einen Teppich ausmachen zu können, der dort über die Brüstung eines Balkons gehangen worden sei. Die drei Flecken, die sich auf dem Gehsteig unterhalb des Balkons finden, deutet der Blogger, vorsichtiger schon mit Fragezeichen versehen, als weitere Personen, eines hiervon eventuell ein Kind samt Hund. Ebenfalls nicht vollends sicher ist sich Leo bei der Entschlüsselung einer Fensterszene im Vordergrund: »Cat in the window?« ist dort notiert. Einfach ist es, eine solche Suche in der Textur der Daguerreotypie als einen in die Irre führenden Bildfetischismus abzutun. Die »unendlich vielen Feinheiten und Nüanzirungen«, die der Blogger während seines nächtlichen »Scannings«55 zu enthüllen meint, mögen in manchen Fällen überzeugen, in anderen hingegen nicht. Und das vermeintliche Bild eines Mannes, der sich die Stiefel putzen lässt, muss hierbei ausdrücklich mit eingeschlossen werden. Tatsächlich bemerkenswert jedoch ist vor allem jenes Vertrauen, dass Leo dem von ihm so intensiv untersuchten Bild entgegenbringt. Weder weiß er, dass das Münchner Original durch einen misslungenen Restaurierungsversuch bereits seit Jahrzehnten in einem visuellen Rauschen verschwunden ist,56 noch wird diese Suche ernstlich von der Tatsache aufgehalten, dass zwischen dem (einstigen) Original und dem von Leo erkundeten Bildfeld eine ganze Kaskade von Repräsentationen getreten ist, die jeden »›ontologischen‹ Wunsch«57 doch eigentlich unerfüllbar erscheinen lassen sollten.58

55 Vgl. Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Berlin 1983, S. 8. 56 Ulrich Pohlmann und Marjen S ­ chmidt, »Das Münchner Daguerre-Triptychon. Ein Protokoll zur Geschichte seiner Präsentation, Aufbewahrung und Restaurierung«, in: Fotogeschichte 14 (1994), Heft 52, S. 3–13. Sylvia Ballhause, »Echte Täuschung? Original und Duplikat des Münchner Daguerre-Triptychons«, in: Fotogeschichte 31 (2011), Heft 121, S. 37–44, dies., »Die Bilder des Münchner Daguerre-Triptychons. Eine Beschreibung dreier unkenntlich gewordener Daguerreotypien«, in: Rundbrief Fotografie 18.4 (2011), S. 8–11. 57 Barthes, Die helle Kammer, S. 11. 58 Siehe zu einer Kritik dieser Repräsentationsvergessenheit der Fotografie-Forschung, nicht zuletzt auch mit Blick auf Daguerres Ausblick auf den Boulevard du Temple, ausführlich Tschirner, »Historische Photographie und historiographische Reproduktion«, S. 147–167.

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Modell Die mahnende Erinnerung konstruktivistisch gestimmter Fotografie-Theorien, das in diesen Bildern Sichtbare nicht mit einer ihnen vorausgesetzten Wirklichkeit zu verwechseln, sondern vielmehr auf die mediale Bedingungen des Fotografischen zu achten, nimmt, wie es scheint, diesen Bildern nichts von ihrer Faszination, dem Auge »unendlich viele Feinheiten und Nüanzirungen« in Aussicht zu stellen. Internet-Bloggern wie Leo sollte schon deshalb nicht voreilig Naivität unterstellt werden, da sie anhand der von ihnen unternommenen Bearbeitungen ihrer Untersuchungsgegenstände zeigen, dass sie um die Eigenlogik des Mediums sehr wohl wissen. Solche Interventionen betreffen im Fall der Daguerreotypie zum Beispiel die fehlende Farbigkeit, die kurzerhand nachgetragen wird oder auch die Seitenverkehrtheit des Bildes, die sich am Computer sekundenschnell korrigieren lässt.59 Gewiss sind solche Akte der Manipulation für sich genommen erstaunlich und vielleicht auch sonderbar. Vor allem aber geben sie etwas von jenen Voraussetzungen zu erkennen, denen die Betrachtung von Bildern wie Daguerres Ansicht des Boulevard du Temple untersteht. Eben diese Voraussetzungen sind es, die es zuletzt vor allem gestatten, trotz aller entfalteten Varianz fotografischer Medien von einem gemeinsamen Prinzip des Fotografischen, von einem ›Paradigma Fotografie‹ zu sprechen. Hierbei gibt es sogleich zwei Gründe, die Fotografie ganz wörtlich bei ihrem Namen zu nehmen. Alle fotografischen Verfahren hängen im Moment der Bildproduktion von der Einwirkung des Lichtes auf einen fotosensiblen Bildträger ab, welchen apparativen (oder auch, wie der Blick auf die kameralose Fotografie lehrt, nicht-apparativen) Bedingungen sie hierbei im Einzelnen auch immer unterstehen mögen. Einer solchen vordergründigen Deutung lässt sich indes eine zweite zur Seite stellen, die den Namen der Fotografie hinsichtlich seines metaphorischen Gehalts ernst nimmt. Aus eine solchen Perspektive scheint in der Rede vom ›Licht-Bild‹ die Vorstellung einer Wahrheitsfähigkeit auf, die jede einzig arbiträre Bezugnahme der sichtbarer Form zu einer ihr vorgängigen Wirklichkeit überwindet.60 Vor allem der aus der Semiologie entlehnten Begriff ›Index‹ schien der Fotografie-Theorie hierbei fortlaufend nützlich zu sein, die Vorstellung einer notwendigen visuellen Form terminologisch zu fassen.61 Hierbei wird

59 Siehe http://www.lunarlog.com/colorized-boulevard-du-temple-daguerre/ und http://www.flickr.com/photos/emanistan/4298578797/ [Letzter Zugriff: 26.04.2014]. 60 Siehe hierzu auch Siegel, Belichtungen, S. 9–22. 61 Siehe hier vor allem Barthes, La chambre claire, S. 120. Philippe Dubois, L’acte photographique et autres essais, Paris 1990.

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die Vorstellung der Spur, die hinter der Rede vom ›Index‹ steht, das sehr viel ältere Bildkonzept der Realpräsenz auf die Vielfalt der fotografischen Bilder übertragen.62 Einmal mehr war es im Übrigen Roland Barthes, der einer solchen Vorstellung formelhaften Ausdruck verlieh: »der Referent bleibt haften«.63 Was es aber heißt und vor allem wohin es zuletzt führt, die Wahrheit der Fotografie in der materiellen Beschaffenheit eines solchen Bildes er- und begreifen zu wollen, hat Charles Leo anhand seiner Inspektion von Daguerres Ausblick auf den Boulevard du Temple idealtypisch vorgeführt. Ihren Ausgang nahm seine Suche nach sprechenden Details von der Schuhputzer-Szene im linken unteren Bildviertel. In gewisser Weise endete sie auch wieder gerade hier: im Vordergrund der Aufnahme. Es ist ein ebenfalls dort zu findender dunkler Fleck (Abb. 7), den Leo sprachlich umkreist: »Cart or stroller. This has two wheels. It appears that there are two people sitting on a bench here. Notice the arm on the right and the appearance of a face on the left.« Jedes fotografische Bild besitzt, durch seine Auflösung bedingt, eine interne Grenze, an der die sichtbaren Formen nicht länger als ein Detail identifizierbar sind, das wir semantisch aufladen können.64 Exakt entlang dieser Grenze bewegt sich die gesamte, von Leo unternommene Recherche auf dem Bildfeld dieser Daguerreotypie. Während jedoch der Schuhputzer, nicht zu­­ letzt durch eine bereits 1839 einsetzende Deutungstradition gestützt, einige Plausibilität für sich in Anspruch nehmen mag, bleibt die Entdeckung eines »cart or stroller« und zweier Leute, die hier auf ganz bestimmte Weise Platz genommen haben, eine erstaunliche Projektionsleistung. Mindestens die von Leo im Internet publizierten digitalen Reproduktionen sowie die hierzu gehörenden Ausschnitte geben nicht zu erkennen, warum er sich sicher war oder es doch wenigstens für möglich hielt, hier das von ihm Beschriebene erkennen zu können. So viel gegen solche Beobachtungsergebnisse zuletzt sprechen mag, die dahinter wirksame Operation eines projektiven Sehens65 lässt sich gleichwohl

62 Vgl. Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005. Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, vor allem S. 171–230. 63 Barthes, Die helle Kammer, S. 14. 64 Hierzu ausführlicher Steffen Siegel, »Ich sehe was, was du nicht siehst. Zur Auflösung des Bildes« in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 58 (2013), S. 177–202. 65 Zur langen Vorgeschichte einer solchen Aus­ei­nan­der­set­zung mit der visuellen Form siehe Jurgis Baltrušaitis, »Pierres imagées«, in: ders., Aberrations. Quatre essais sur la légende des formes, Paris 1957, S. 47–72. Jörg Bittner, »Wolken, Mauern und Schwämme. Leonardo und die natürlichen Hilfsmittel visueller Kreativität«, in: Hans-Georg von Arburg, Michael Gamper, Ulrich Stadler (Hg.), Wunderliche Figuren. Über die Lesbarkeit von Chiffrenschrift, München 2001, S. 17–41. Philippe Junod, »Vom ›componimento inculto‹ Leonardos zum ›œil sauvage‹ von André

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Abb. 7: Charles Leo: Deutungen von Daguerres Aufnahme des Boulevard du Temple, publiziert 2010, Ausschnitt

sehr ernst nehmen. Denn der eigentliche Ort jener Wahrheit, von der mit Blick auf die Fotografie die Rede ist, liegt im Auge jenes Betrachters, der bereit ist, in einer amorphen visuellen Information eine bestimmte Gestalt zu erkennen. Für die grundlegende Frage, »was Fotografie ist« und die hiermit verbundene Suche nach einem »›genius‹ of its own«66 hatte James Elkins mit guten Gründen dafür argumentiert, dass Antworten hierauf nicht anhand der Bilder allein gegeben werden können. Es ist eine bestimmte Bereitschaft zur Wahrnehmung, die hierbei gleichermaßen wesentlich werden wird. Diese Bereitschaft ist es, die eine Grenze errichtet zwischen solchen Bildern, denen Wahrheitsfähigkeit zugeschrieben wird und jenen, bei denen diese Annahme nicht gilt. Umrissen ist mit dieser Grenze das ›Paradigma Fotografie‹. Beherrscht wird es von der Idee, dass es einen sinnvollen Zusammenhang geben können zwischen ›Bild‹ und ›Wahrheit‹.67

Breton«, in: Gerhart von Graevenitz, Stefan Rieger, Felix Thürlemann (Hg.), Die Unvermeidlichkeit der Bilder, Tübingen 2001, S. 133–146. 66 Elkins, What Photography Is, S. 3. 67 Alan Trachtenberg, »Photography. The Emergence of a Keyword«, in: Martha A. Sandweiss (Hg.), Photography in Ninteenth-Century America, Fort Worth, New York 1991, S. 17–47.

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Wer wie Charles Leo die digitale Version eines unterdessen zerstörten Originals noch nach den kleinsten Indizien einer längst vergangenen Wirklichkeit zu durchmustern bereit ist, kultiviert eine Form visueller Aufmerksamkeit, die Elkins treffend als ein »rigid seeing«68 bezeichnete. Dieser fortgesetzte Akt eines »unnachgiebigen Sehens« ist es, der sich als ein stabiles Konzept bestimmen lässt, das trotz erheblicher Unterschiede gegenüber allen Formen und Technologien fotografischer Bildlichkeit aktiviert und aufrecht erhalten werden kann.69 Gewiss ist ein solcher Wahrnehmungsmodus des Prüfens und Musterns, von dem im Übrigen ja bereits Kolloff 1839 sprach, eine forcierte Ausnahme gegenüber den Standards weit beiläufigere Formen des Sehens. In der Möglichkeit aber, Bilder einem »unnachgiebigen Sehen« zu unterstellen, scheint ein Modell von Wahrnehmung auf, das visuelle Aufmerksamkeit bis an seine äußerste Grenze voranzutreiben bereit ist. Wie Leo diese Grenze zu übertreten und (jedenfalls auf Grundlage meiner Beobachtung) den amorphen Fleck als »cart or stroller« zu deuten, ist, auf unfreiwillige Weise, die stärkste Beglaubigung der Bereitschaft, der Fotografie Wahrheitsfähigkeit zuzuschreiben und einer solchen ›Wahrheit‹ auf dem Weg eines »unnachgiebigen Sehens« habhaft zu werden. Bereits die aus den Anfangsjahren der Fotografie überlieferten Berichte vom Gebrauch der Lupe, ja sogar des Mikroskops70 geben zu erkennen, das solche unnachgiebigen Akte visueller Aneignung sich von einem Zwang zum Sehen kaum frei machen können. Hat man sich einmal auf eine solche Form visueller Aufmerksamkeit eingelassen, kann das Sehen zu einer Aufgabe geraten, bei der nicht sicher ist, ob sie sich abschließen lässt. Von einem ›Paradigma Fotografie‹ zu sprechen, heißt, einen Weg einzuschlagen, der vom Bild zum Betrachter, vom Medium zur Wahrnehmung führt. Das Modell, das der Name eines solchen Paradigmas verspricht, wird von einer historisch erstaunlich stabilen Vermutung getragen, einer bestimmten visuellen Form Notwendigkeit unterstellen zu können und Bilder mit einer Vorstellung von Wahrheit in Zusammenhang zu bringen. So lange ein sehr genaues, ein unnachgiebiges Sehen keine Spuren des Arbiträren entdecken kann, kann diese Vermutung ihre Geltung entfalten. Mit dem Namen

68 Elkins, What Photography Is, S. 208. 69 Bernd Stiegler, »Das Sichtbare und das Unsichtbare. Kleine Wahrnehmungsgeschichte der Photographie« in: Sabine Haupt, Ulrich Stadler (Hg.), Das Unsichtbare sehen. Bildzauber, optische Medien und Literatur, Wien, New York 2006, S. 141–159. 70 Alfred Donné, »Sur ce qui se passe pendant les diverses parties de l’opération. Lettre à M. Arago«, in: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des Sciences 9 (1839), S. 376–378. Für eine deutsche Übersetzung siehe Siegel, Neues Licht, S. 401–403.

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der Fotografie verbunden ist die Aktivierung einer Form visueller Wahrnehmung, die in den kleinsten Details ihre wichtigsten Argumente findet; oder aber ihre Gegenargumente, wie im Fall jenes Gemäldes von einem Sammelband (Abb. 1), das der Leipziger Künstler Adrian Sauer mit Hilfe eines Computers geschaffen hat71 und mit er daran erinnert, was außerhalb des ›Paradigma Fotografie‹ steht.

Erschienen in: Jürgen Bohm, Andrea Sakoparnig, Andreas Wolfsteiner (Hg.): Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften, Berlin, New York (de Gruyter) 2014.

71 Florian Ebner, »Verifikationen und Falsifikationen. Adrian Sauers Fragmente zum digitalen Gebrauch der Fotografie«, in: Adrian Sauer, 16.777.216 Farben, Band »Material«, Leipzig 2009, S. 19–28. Siegel, Belichtungen, S. 23–38 und S. 274–276.

Paradigmenwechsel Wandel in den Künsten und Wissenschaften

Herausgegeben von Andrea Sakoparnig Andreas Wolfsteiner Jürgen Bohm

DE GRUYTER

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

ISBN 978-3-11-033356-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-033367-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038262-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

www.claudia-wild.de: Bohm__Paradigmenwechsel__[Druck-PDF]/10.09.2014/Seite 5

Inhaltsverzeichnis Einleitung 

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Teil I: Paradigmen als epistemologische Schemata  Gunnar Hindrichs Paradigma und Idealtyp 

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 21

Sylwia Werner Denkstil – Paradigma – Avantgarde Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in den Wissenschaftstheorien Ludwik Flecks und Thomas Kuhns  Anna Echterhölter Von der Lösung der Anomalie zur Aussetzung des Fragens Temporalität als Argument bei Kuhn, Davidson und Blanchot 

 53

 67

Erika Fischer-Lichte Paradigmenwechsel oder ›turns‹? Zur Theorieentwicklung in den Geisteswissenschaften seit den 1960er Jahren   87 Georg W. Bertram Das Autonomie-Paradigma und seine Kritik  Dieter Mersch Singuläre Paradigmata Kunst als epistemische Praxis 

 105

 119

Andrea Sakoparnig Bestimmende Selbstbestimmtheit Die Paradigmatizität der Kunst   139 Frederik Tygstrup Life and Forms On a Paradigmatic Negotiation in the Philosophy of Gilles Deleuze 

 161

www.claudia-wild.de: Bohm__Paradigmenwechsel__[Druck-PDF]/10.09.2014/Seite 6

6 

 Inhaltsverzeichnis

Teil II: Paradigmen als Muster ästhetischer Praxis  Steffen Siegel Paradigma Fotografie 

 173

 175

Andreas Wolfsteiner Szenarien, Zeitmuster Umbrüche paradigmatischer Zeitperspektiven in Künsten und Wissenschaften   201 Michael Lüthy Paradigmenwechsel wohin? Artistic Research bei Tomás Saraceno und Robert Smithson  Beatrice von Bismarck Im Angesicht der Kunst Tuerlinckx und die Politik der Präsentation  Renate Schlesier »Goldene Aphrodite« Zu einem Paradigma der antiken Literatur  Martin Endres Nach dem Muster Die Paradigmatizität der Poesie 

 247

 259

 277

Oswald Egger Nach dem Muster Vom innigen Band der Begriffe symplektischer Wortgeflechte mit Anmerkungen von Ralph M. Kaufmann zu Oswald Eggers Hölderlin-Schnitten   285 Abbildungsverzeichnis 

 309

Liste der Beitragenden 

 311

 223

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