John Dos Passos \"Manhattan Transfer\"

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Allegorie einer Großstadt Eindrucksvolles Hörspielprojekt: „Manhattan Transfer“ nach John Dos Passos Von Angela di Ciriaco-Sussdorff „Er zeigt das Panorama, das Gefühl, den Geruch, den Klang, die Seele von New York.“ Mit diesen Worten – im Original: „He presents the panorama, the sense, the smell, the sound, the soul, of New York” – begann Sinclair Lewis, der erste amerikanische Literaturnobelpreisträger, 1925 seine Rezension über den gerade erschienenen Roman „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos (1896 bis 1970). Was Sinclair Lewis in diesem Satz schrieb, hat bis heute Bestand und fasst das große Opus im Kern zusammen. Der bahnbrechende Roman lohnt auch heute noch die Lektüre – und jetzt gibt es einen weiteren Grund, sich mit ihm zu beschäftigen: „Manhattan Transfer“ liegt als öffentlich-rechtliche Rundfunkarbeit in einer opulenten, mehrstündigen Hörspielversion vor. Jahrzehntelang schienen der Roman und sein Autor fast vergessen – so wie im Übrigen auch Don Passos’ nachfolgende Monumentaltrilogie „U.S.A.“. Und doch hatte Dos Passos mit „Manhattan Transfer“ den Romanstil seiner Zeit revo­lutioniert, indem er hier die literarische Methode des „Camera Eye“ einsetzte, also die Technik, die der emotionsfrei registrierenden Kamera verwandt ist. Vergessen schien auch der Einfluss seiner Romane und vor allem ihres literarischen Habitus auf amerikanische Schriftsteller wie William Faulkner und Tom Wolfe, später dann auf europäische Autoren wie Jean-Paul Sartre und Alfred Döblin. Von Sarte war Dos Passos 1938 immerhin als der „größte Autor unserer Zeit“ MEDIENKORRESPONDENZ 13/2016

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bezeichnet worden und der französische Existentialist stand mit dieser Meinung keineswegs allein da. Und auch Dos Passos’ Einfluss auf Alfred Döblin und dessen Werk „Berlin Alexanderplatz“ (1929), des deutschen Großstadtromans par excellence, gilt als gesichert. Manfred Hess ist Hörspieldramaturg beim Südwestrundfunk (SWR) und plante seit langem, „Manhattan Transfer“ als Hörspielversion zu realisieren. Cover der CD-Edition des Hörspiels „Manhattan Transfer“ Im Zuge seiner mehrjährigen Beschäftigung mit diesem Projekt konnten die Erben des Autors dafür gewonnen werden, die Rechte für eine deutsche Neuübersetzung freizugeben. Darüber hinaus war auch der Rowohlt-Verlag bereit, eine neue Edition des Romans herauszubringen. Und Dirk van Gunsteren ist es mit seiner Neu­ übersetzung gelungen, der sprachlich ‘in die Jahre gekommenen’ Version von Paul Baudisch ein zeitgemäßeres Sprachbild entgegenzusetzen (von kleinen Schlacken wie etwa „mahlende Kälte“ oder „schuppige Rosen“ einmal abgesehen). Als dann auch der Deutschlandfunk (DLF) als Koproduzent des Hörspiels mit ins Boot kam und der Verlag Hörbuch Hamburg den Zuschlag für die Veröffentlichung auf CD bekam, war das Paket geschnürt und einer Verwirklichung des Projekts stand nichts mehr entgegen. „Manhattan Transfer“ konnte mit großer medialer Vorbereitung ins Radio (SWR 2, Deutschlandfunk) und auf den Hörbuchmarkt kommen. Die einst als ‘unheilig’ empfundene Allianz zwischen öffentlich-rechtlicher Institution und Kommerz wurde hier erneut eingegangen in der Hoffnung, auf diese Weise eine substanzielle Publikumsmehrheit zu gewinnen. Das Radio als das duch und durch geeignete Medium Nun konnte für die Realisation des Hörspiels der größte Schritt oder vielmehr: ein weiterer Sprung in Angriff genommen werden. Mit Leonhard Koppel­mann wurde einer der erfahrensten Hörspielregisseure und Bearbeiter engagiert. Schon in sehr jungen Jahren hatte sich der heute 46-Jährige an umfangreiche Romanbearbeitungen gewagt, so hatte er etwa vor fast zwanzig Jahren „Die Säulen der Erde“ von Ken Follett für den WDR als Hörspiel realisiert. Als Co-Bearbeiter für „Manhattan Transfer“ wurde der Komponist Hermann Kretzschmar beauftragt – eine Zusammenarbeit, die sich als äußerst fruchtbar und überzeugend erweisen sollte. Auch Kretzschmar ist natürlich kein Unbekannter. Weit über die Fachkreise hat er als Komponist einen Namen und er ist Mitglied im ‘Ensemble Modern’. Für die Hörspielversion von Helmut Kraussers Theaterstück „Denotation Babel“ war Kretzschmar 1999 mit dem renommierten Prix Italia ausgezeichnet worden. Als Textbearbeiter von „Manhattan Transfer“ ist es Leonhard Koppelmann gelungen, den im Grunde handlungsarmen Roman szenisch zu verdichten. Handlungsarm deswegen, weil Dos Passos als Autor kein ‘klassisch’ episches Interesse zeigte. Ihn interessierte nicht die fortlaufend flüssig weitergestrickte Narration, sondern die kaleidoskopisch angeordnete Ansicht des nur fragmenMEDIENKORRESPONDENZ 13/2016

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tarisch wahrgenommenen Molochs New York. Mit dem umfangreichen Personal des Romans beleuchtet er Figuren aus nahezu allen sozialen Schichten der Stadt – und dies über einen Zeitraum von knapp 30 Jahren. Protagonist ist hier also keine Person. Protagonist ist die Stadt, über die Dos  Passos zusammenfassend in einer seiner schönsten Passagen schreibt: „Einst gab es Babylon und Ninive, erbaut aus Ziegelsteinen. Athen, das waren Säulen aus Gold und Marmor. Rom ruhte auf breiten Bruchsteinbogen. In Konstantinopel leuchten die Minarette am Goldenen Horn wie große Kerzen… Stahl, Glas, Fliesen, Beton – das werden die Materialien der Wolkenkratzer sein. Die millionenfenstrigen Gebäude werden auf der schmalen Insel [d.i. Manhattan] dicht gedrängt und glitzernd aufragen, Pyramiden über Pyramiden, schimmernd wie der weiße Wolkenturm eines Gewitters.“ Wenn man das Hörspiel bei der Ausstrahlung im Radio anhört – bei SWR 2 waren es drei Folgen von rund 100 Minuten (vgl. Kasten) –, ist es kein ganz leichtes Unterfangen, sich in dem – wenn auch geordneten – Gewirr der drei Folgen zu orten. Bei der Hörbuchversion mit ihren 6 CDs hat man es da leichter, zumal sie mit geschickten und gut auffindbaren Takes ausgestattet ist, die dem individuellen Hören auf sehr praktikable Weise entgegenkommen. Der musikalische Teil der Hörspielumsetzung unterstützt den gesprochenen Teil nicht nur in Gliederung und Struktur, sondern auch durch eine Grundie-

Formatsprengend Das Hörspielversion von „Manhattan Transfer“ nach dem Roman von John dos Passos sprengt als Großproduktion das Programmschema der Sender. Die ursprünglichen Kapitel, wie sie auf der literarischen Vorlage beruhen, halten sich nicht an die formatierte Länge heutiger Radiosendeplätze. Das bedeutet für die Ausstrahlungen, dass das Hörspiel dann durch Kürzungen an die jeweiligen Sende­ plätze angepasst wird. Ein mehrstündiges Hörspiel mit unterschiedlich langen Teilen auch in diesen unterschiedlich langen Teilen auszustrahlen, das trauen sich heutzutage (mit kaum noch vorkommenden Ausnahmen) nicht einmal mehr Kulturwellen und auch nicht der Deutschlandfunk. Bloß nicht die Nachrichten ausfallen lassen, alle Macht dem festen Programmschema! Dies führte dazu, dass „Manhattan Transfer“ in diversen Versionen verfügbar war. Das insgesamt 340 Minuten lange Stück, angelegt in drei Teilen bzw. Kapiteln, wurde bei SWR 2 um 20 Minuten gekürzt ausgestrahlt, und zwar im Rahmen einer Woche zu diesen drei Terminen: Ausstrahlung bei SWR 2 So 22.5.16 So 29.5.16

Teil 1: 1896 bis 1905 Teil 3: 1918 bis 1924

Do 26.5.16 Teil 2: 1913 bis 1916 jeweils 18.20 bis 20.00 Uhr

Der Deutschlandfunk sendete das Hörspiel in einer stark gekürzten Version von vier Teilen à 50 Minuten (insgesamt also 200 Minuten) im Rahmen von vier Wochen an diesen Sendeterminen: Ausstrahlung im Deutschlandfunk Dienstags

7.6., 14.6., 21.6. und 28.6.16

jeweils 20.10 bis 21.00 Uhr

Internet Schließlich gab es noch die Bereitstellung des Hörspiels im Internet. Hier standen bis zum 4. Juni zwei Wochen lang die drei Teile in der jeweiligen Originallänge auf der Webseite von SWR 2 zum Abruf bereit, das heißt Kapitel 1 mit 105 Minuten, Kapitel 2 mit 120 und Kapitel 3 mit 115 Minuten. Hörbuch Am 26. Mai wurde das 340-minütige Hörspiel „Manhattan Transfer“ im Verlag Hörbuch Hamburg als CD-Edition veröffentlicht (6 CDs, 20,- Euro).  24.6.16/MK

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rung, die dem Sound der Stadt und der Zeit nachspürt. Steffen Weber am Tenor­ saxophon (auch Klarinette und Flöte), Jean Paul Höchstädter am Drumset und bei der Perkussion und in erster Linie Hermann Kretzschmar am Klavier verbinden das szenische Mosaik ebenso mit fetzigen Jazz-Linien und gelegentlich fast tänzerischem Swing wie auch mit düsteren, dumpfen Farben – und dies, ohne je in eine naturalistische Illusionsmalerei zu verfallen. Dos Passos selbst gibt, als seien es Literatur gewordene Regieanweisungen, die Art der Musikalität vor: „Übel zugerichtete Foxtrott-Melodien wanken auf die Straße, gefolgt von Bluesstücken und Walzern, die flirrende Erinnerungen verströmen.“ So erfährt das Amalgam aus Sprache und Klang eine teils luftige Höhe, teils hohle Tiefe, was trotz des so oft gepriesenen filmischen Charakters des Romans in einer Verfilmung wohl nicht zu leisten wäre. Das Radio erweist sich hier als das durch und durch geeignete Medium für eine Adaption. Der komplexe Mechanismus von „Manhattan Transfer“ wäre natürlich nicht darstellbar ohne Schauspieler mit großem Können. Ein Glücksgriff in der Besetzung ist als Erzähler Stefan Konarske, der jenen, die den Dortmunder „Tatort“ kennen, in der Rolle des jungen Kommissars Daniel Kossik bekannt sein dürfte. Erstaunlich, wie er durchgehend den Ton hält, die Geschehnisse begleitend wie das Auge der Kamera oder auch wie ein Autor, der quasi eine wissenschaftlichen Versuchsanordnung kreiert und die Positionen lakonisch auf dem Papier verschiebt. Konarske kommentiert nicht, er ist Berichterstatter – exakt, aber ungerührt, mit langem Atem. Das Geschick bei der Besetzung der Rollen Die vorwiegend männlichen Hauptrollen sind mit Schauspielern besetzt, deren Stimmen für den Hörer gut unterscheidbar sind – auch das ein Zeichen für das Geschick bei der Besetzung der Rollen im Hörspiel. Max von Pufendorf als Journalist Jimmy Herf (eine Art Alter Ego des Autors) bleibt in Erinnerung, ebenso wie Ulrich Matthes als Anwalt und Karrierist George Baldwin. Auch Baldwin ist in dieser Geschichte letztlich kein Glück beschieden wie auch dem jungen Arbeitslosen Bud Korpenning (Max Simonischek) und allen anderen nicht, die der Moloch New York auffrisst, die von der Großstadt-Hektik lakonisch weggespült werden in die Irrelevanz. Die einzige weibliche Hauptfigur, Ellen Thatcher, schlingert durch mehrere Ehen, bevor sie glaubt, dem ganz besonderen Mann begegnet zu sein. Aber auch das ist nicht von Dauer. Die große Liebe wird vom „Big Apple“ avant la lettre verschlungen. Maren Eggert verkörpert im wahrsten Sinne diese schillernde Frauenfigur, gibt ihr Kontur und Glaubhaftigkeit. Schon im Vorfeld dieser Hörspielproduktion war von dem enormen Auf­ gebot an Mitwirkenden zu lesen, über 50 Darsteller seien es gewesen. Ein organisatorisches Mammutunternehmen war es mithin, das in den Kölner Studios des koproduzierenden Deutschlandfunks auf die Beine gestellt wurde. Unverkennbar ist beim Hören die Erfahrung des Regisseurs Leonhard Koppelmann zu spüren, der die große Gabe hat, unterschiedlichste künstlerische Sensibilitäten aufeinander einzustimmen und gleichsam am Zügel zu halten, ohne zu domestizieren. „Manhattan Transfer“ ist auch und vor allem eine Allegorie der Entfremdung des Einzelnen von seinem Umfeld, aber auch von sich selbst. Der Roman ist ein existentielles Paradigma des modernen Menschen, so wie er vor über 90 Jahren von einem der großen Visionäre der amerikanischen Literatur gesehen wurde. Dass dies noch heute gilt, zeigt diese außergewöhnliche Hörspielproduktion aufs Eindrucksvollste.  24.6.16/MK MEDIENKORRESPONDENZ 13/2016

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