Real Life Is No Cool

May 24, 2017 | Autor: Nadja Geer | Categoria: Art Theory, Popular Culture
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Real Life Is No Cool Selfing ist das neue Posing

TALK in gekürzter Form gehalten am 15.04.2016 auf der Konferenz „After Pop? Massen, Medien, Konsum im 21. Jahrhundert“ an der Universität St. Gallen

Guten Tag, ich freue mich sehr, auf diese Konferenz eingeladen worden zu sein, denn die Frage, ob wir uns in einer Phase nach Pop befinden, beschäftigt mich bereits seit Längerem. Jörg Metelmann bat darum , einen „poppigen“ Vortrag zu halten, und ich werde mein Bestes geben, dem Folge zu leisten. Ich möchte nicht nur Abschnitte aus meinem im Heft 6 von Pop. Kultur und Kritik erschienenen Essay zu dem Thema referieren, sondern auch noch ein paar neue Thesen präsentieren. Zwei kurze Vorbemerkungen: Ich werde nicht, wie im Ankündigungstext steht, die 1960er oder 1970er Jahre mit der Gegenwart vergleichen und Unterschiede herausarbeiten, vielmehr dienen mir die 1980er Jahre mit ihren Stylewars und ihrer Glorifizierung der Pose als Folie des Vergleichs. Und wenn sie sich fragen, woher der erste Teil des Titels stammt: Es ist, natürlich, ein Albumtitel und zwar von der schwedischen Band Lindström &Christabelle.

Real life is no cool. Selfing ist das neue Posing Der Begriff Cool, so kann man zumindest in Ulf Poschardts gleichnamigen Buch nachlesen, sei „die Umschreibung für etwas positiv Lässiges“ – und auch der amerikanische Kunstkritiker Jerry Saltz benutzt es genau in diesem Sinn, wenn er berichtet, warum er Fotos des Star-Kurators Hans Ulrich Obrist auf Instagram liked: „Meistens habe ich keine Ahnung, was sie bedeuten, aber sie kommen eben von diesem künstlerischen Quälgeist und ArtaudLookalike, also setze ich mein ‚Gefällt mir‘ darunter, um cool zu wirken.“ Cool kann aber mehr bedeuten als nur eine Geste: ‚Cool sein heißt, nicht verführt werden können, wenn man es nicht will“ (Poschardt 200,11). Das „Exoskelett“, so Poschardt weiter, schütze „das psychische System vor der Invasion durch Medien und Umwelt“. Nimmt man dieses Bild als gelungene Umschreibung für ein klassisches Pop-Posing (being cool), dann muss man feststellen, dass diese Abwehrstrategie des Individuums als gescheitert angesehen werden kann. Die Invasion hat stattgefunden, gleichwohl wird das von den digital natives nicht betrauert. Sie haben mit dem Digitalen und Virtuellen ein neues Habitat, das keinen Habitus –um nichts anderes handelt es sich ja bei dem glorifizierten „cool“ – mehr nötig hat.



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Foto: Nadja Geer

Die Selbstdarstellung in der Wirklichkeit, so kommt es einem vor, hat ihre Attraktivität an die soziale Konstruktion in den Medien verloren. Eine moderne Spielart der Romantik wurde durch eine zeitgemäße Spielart des Realismus, Pop durch P.O.P.C. (permanently online, permanently connected) abgelöst. Stephanie Sargnagel, bekannte Comiczeichnerin, Bloggerin, Facebookerin und Klagenfurt-Autorin (und ehemals Studentin von Daniel Richter) meint dazu lapidar: „Ich find das Leben im Internet besser als das unten auf der Erde“. Gehen wir zur Klärung der Lage noch einmal einen Schritt zurück: Ich möchte Ihnen die beiden Begriffe – Selfing und Posing – noch ein bisschen näherbringen, bevor wir in die Diskussion einsteigen, ob das eine das andere abgelöst hat oder ob es sich nur um eine Modifikation handelt. Beim Posing handelt es sich um eine Selbstdarstellung im Kontext der Popkultur, man kann auch von Selbstinszenierung sprechen. Das Selfing hingegen stellt eine bestimmte Form der Ich-Konstruktion in den sozialen Medien dar, allen voran Facebook. Posing im Pop war selbstreflexiv: Die Sichtbarmachung des konstruktiven Charakters einer Authentizitätsfiktion war oft Sinn und Zweck der aufgesetzten Pose des bejahenden Pop-Konsumenten. Im Sinne der traditionellen Romantik kann man sagen, dass auch bei der Pop-Pose das poetisch Wahre

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irgendwann wahrer wurde als die empirische Wirklichkeit. Dieser Sachverhalt wurde im Popdiskurs mit dem Begriff der „Als-Ob-Authentizität“ gut umrissen. In der Ambiguität von Schein und Sein traf sich die Pose mit dem postmodernen Konzept der Simulation, die nach Baudrillard „die Differenz zwischen ‚Wahrem‘ und ‚Falschem‘, ‚Realem‘ und ‚Imaginären‘ immer wieder in Frage stellt“ (Baudrillard 1978, 10). Über das Posing diffundierte in den 1980er Jahren die Simulation auch in die Alltagskultur: „Nur Simulation ist möglich. Wir können ‚Väter‘ simulieren oder ‚Angestellte‘ oder ‚Landbewohner‘ oder ‚Auswanderer‘ oder ‚frustrierte Midlife-Linke‘ oder ‚doch-nochLehrer‘ oder ‚disziplinierte Journalisten‘, aber eben nur simulieren. Wir kamen überein, das einzusehen und nicht mehr zu versuchen, das Authentische, das Wahre, die Identität, zu suchen.“ (Horx 1987, 142). Ähnlich funktionierte auch das Re-Modeling, dieser durch einen Song von Roxy Music bekannt gewordene und dann von englischen und deutschen Essayisten, Poptheoretikern und Literaturwissenschaftlern wieder aufgegriffene Begriff – auch Christian Kracht befasst sich im „Tristesse Royal“-Gespräch länger damit– durch das nach der Authentizität und der Identität auch noch die Originalität abgeschafft wurde. Das Zitat und die Zitierfähigkeit gewinnen in diesem Kontext massiv an Bedeutung. Der Gedanke, es würde sich allein daraus eine Bedeutung ergeben, wenn man sozusagen als „Code“ etwas zitiert, das modellhaft auftritt – zum Beispiel die Button-down-Hemden der Mods –, prägte jahrelang die literaturwissenschaftliche Poptheorie. Für Eckard Schumacher ist Re-Modeling dann auch ein Vorgang, bei dem „durch Figuren der Wiederholung etwas in Gang gesetzt“ wird, „das im Rahmen von bestehenden Normen und Konventionen eben diese verschiebt“ (Schumacher 2001, 272). Für Dirk Niefanger erscheint beim Re-Modeling das Nicht-Identische als Identisches (Niefanger 2004, 98), und auch ich habe mich über die Konstatierung eines Freudschen „Narzissmus der kleinen Differenz“ in derselbstreferenziellen Pose namens „Sophistication“ wohl nicht zuletzt mit einer Ausformung des Re-Modelings auseinandergesetzt. Die Pose zitierte und modifizierte sich in einem ständigen Prozess. ›Re-Modeling‹ wurde zu einem historiografischen Modell im Pop und im Schreiben über Pop. Indem sie die Frage nach dem Ursprung gekonnt verschob, passte sich die Poptheorie der laut Terry Eagleton „hedonistic playfullness of postmodern thought“ (Eagleton 2004, 153) an. Diese Verspieltheit scheint in der gegenwärtigen politischen Weltlage unangebracht – Selfing ist in diesem Sinne auch nur ein Aspekt des Auflösungsprozesses, den die Postmoderne gerade durchläuft. Denn wir befinden uns bekanntlich in einer Gegenwart, in der die Authentizität 2. Ordnung ihre Macht an die Authentizität 3. Ordnung abtreten musste: Die der Memes, des Facebooking, der augmented reality und des Selfing. Nicht mehr Dandys, Mods, Hipster und Punks prägen den Lifestyle des 21. Jahrhunderts, sondern der Internet-Nerd mit seiner Form des (digitalen) Identitätsmanagements. „Mehr als 500 Jahre lang war das geschriebene Wort das wichtigste Medium der Aufklärung, das Mittel des Diskurses. Seit es Internet und Smartphones gibt, werden die Wörter langsam von Bildern verdrängt“: Auch wenn diese Behauptung vom Instagram-Begründer Kevin Systrom stammt, halte ich sie dennoch nicht für falsch. Es findet momentan ein Umbruch statt, und sichtbar wird er unter anderem in der performativen Selbstdarstellung in populären Lebensstilen, zu der sowohl Selfing als auch Posing gehören. Die Pose ist das, was man in der Germanistik heutzutage gerne als „Schwellenfiguration“ bezeichnet: Sie hat schon mit dem Bildraum gearbeitet, war aber letztendlich noch diskursiv, man könnte auch sagen: Sie hatte

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einen literarischen Touch. Die „Ich-Identität als literarisches Zeichenrecycling“ – so der Untertitel einer germanistischen Fachpublikation, die sich mit der Ich-Konstruktion unter Zuhilfenahme künstlerischer Mittel seit 1800 beschäftigt (Köhnen 2001, 7)– im Posing kann man meiner Meinung nach ein Echo davon hören. Zumindest konnte man die Pose im Pop lesen – und das wurde ja dann auch von der Poptheorie recht exzessiv betrieben. Um gut zu posen, benötigte man in der „alten“ Popkultur (oder der Popkultur der Alten, wie man es nimmt) nicht nur Wissen, sondern auch ein bisschen Phantasie, Einbildungskraft, vielleicht sogar Talent. Es war die freudige Aufgabe der Kritik und der Wissenschaft, all die Verweise und Referenzen, die die Pose sowohl in der lebensweltlichen Pop-Ästhetik als auch in der Popmusik und Popliteratur versteckte, aufzufinden. Um zu erkennen, dass diese lustvolle Detektivarbeit wohl bald keinen Tatort mehr hat, muss man sich nur das Logo von Instagram anschauen.

Selfing ist Selbstpräsentation in Zeiten von Wikileaks Wie sieht das nun beim Selfing aus? Statt einem weiteren Voranschreiten der Verkünstelung und damit einem Anziehen derdie „Sophistikationsschraube“ (Goetz 2009, 170) wird sie, gelinde gesagt, gelockert. Glamour, Theatralität, die parodistische Ironie von Camp, die Adoration von Stil und Image und die Pose werden meiner Ansicht nach nicht auf eine höhere Stufe gehoben, sondern leben eigentlich nur noch als Form der Dekadenz weiter. Mit dem Selfie und dem Selfing findet eine Profanierung statt – zumindest, wenn man die Pose als eine Art Weltanschauung betrachtet. Der Sophistication, also der Pop-Kultiviertheit, wird ein Selbstentblößungsprojekt entgegengestellt. Genau das erkennen einige Gewitzte schon wieder als neues, aufregendes Genre an. Die Ausstellung des Selbst, die beispielsweise Kim Kardashian in ihrem „Buch“ Selfish betreibt, stellt nach Meinung von Jerry Saltz nicht nur eine Form der Selbstverortung dar, wie sie auch der norwegische Autor Karl Ove Knausgård auf literarischer Ebene praktiziert (ein Vergleich, den ich eigentlich sehr geistreich finde, da Knausgard ja auch vorgeworfen wird, dass er hinter die Kunsttechniken der Literatur zurückfallen würde), sondern eine Erneuerung. Selfing ist Selbstpräsentation in Zeiten von Wikileaks. Es gibt keine Geheimnisse mehr.

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Selbstentblößung wird zum „punkigen“ Gegenmodell zur sophistizierten Kultiviertheit der Pose. Selfing ist vulgär, doch nicht etwa wegen der durchaus nicht zurückhaltenden Zurschaustellung nackter Haut, sondern weil es so banal ist. Damit steht es sofort wieder in einer Traditionslinie zu bestimmten Kunstrichtungen: „Banality“ hieß eine Soloshow von Jeff Koons aus dem Jahr 1988. Mit dem Posthumanismus liebäugelnde Identitätskonstruktionen konterkarieren die Selbstpoetik des Pop. Auf dem Feld der Fotografie, so konnte man in einem mit „Die Selfie-Dynastie“ überschriebenen Artikel in Die Zeit lesen, sei der Kampf zwischen Mensch und Maschine schon längst entschieden. Für die „anstehenden Verhandlungen zwischen den Menschen und der künstlichen Intelligenz der Maschinen über die Machtverhältnisse der Zukunft ist das eher kein verheißungsvoller Auftakt“ resümiert Felix Stephan. (http://www.zeit.de/kultur/kunst/2016-03/selfies-instagram-ausstellungenschirn). Beim Selfing findet also eine Form der Identitätsbildung statt, in der der Mensch eigentlich gar nicht mehr so richtig anwesend ist – vor allem jedoch nicht seine Geschichte. Wahrheit resultiert nicht aus Erkenntnis, sondern aus der Wahr-Falsch-Logik von Photoshop. Der Subjektivierungsprozess, den Kinder heutzutage durchlaufen, funktioniert nicht mehr ohne Selfie und Internet – und ist damit gekoppelt an Algorithmus und Serendipität. Vielleicht fällt damit der „letzte Akt“, in dem das Subjekt also seine Fähigkeit zur Autorschaft erkennt, der kulturellen Evolution zum Opfer. Zugleich findet auch auf der Rezeptionsebene eine Veränderung statt: In der Internet-Ära suchen Kulturkonsumenten nicht mehr nach Zeichen, Codes und Referenzen wie in der Pop-Ära. Sie suchen nach Information und nach Bildern, und es ist ihnen eigentlich egal, wo sie herkommen. Die Frage nach der Quelle, nach dem Ursprung von etwas, verliert immer mehr an Relevanz. Ebenfalls dated erscheint die Semiotik. Die Wissenschaft der Zeichen spielt keine Rolle mehr, wenn ständig neue Piktogramme kreiert werden, deren Sinn und Zweck die Navigation ist und eben nicht das Herstellen geheimer Codes. Das Entschlüsseln von Kultur bringt in der Welt des Offensichtlichen keine Freude mehr. Vieles von dem, was den Spaß von Pop und Poptheorie ausgemacht hat, kommt im Dataismus also zu einem Ende. Kein Ende nimmt indes der Spagat zwischen Kunst und Leben. Als Fotografien fallen Selfies in den Bereich der Kunst, zugleich jedoch fallen sie über den Algorithmus der sozialen Medien wiederum in den Bereich der digitalen Popkultur und sind damit Teil des Alltagsleben. Saltz hat diese seltsame Zwischenstellung als einer der ersten theoretisch dargestellt. Bereits 2013 beschäftigte er sich in seinem Text „The New Uncanny“ auf äußerst produktive Weise mit dem extrem kitschigen Musikvideo „Bound II“, in dem Kanye West und Kim Kardashian auf einem Motorrad durch eine imaginäre amerikanische Poplandschaft rasen (ich habe den Text ins Deutsche übersetzen lassen): „In einem Text vom letzten Jahr zu Kim und Kanye habe ich eingeräumt, sprachlos zu sein angesichts des allgemeinen Aufbrechens kultureller Normen, an dem sie tatsächlich mitzuwirken scheinen und zwar mit ihrem offenkundig so verschiedenartigen kulturellen Erbe, das sie in Prunk, Aufrichtigkeit, Kitsch, Ironie und Drama überführen, unter Berufung auf Vorstellungen des Spektakels, der Privatsphäre, der Faktizität und der Fiktionalität. All dies wurde zusammengefasst in einer Art neuer Identität, bei deren Entwurf sie ebenso selbstsicher und eigentümlich vorgehen wie einst Andy Warhol. So wie bei Warhol dient dieser Entwurf einerseits der Blendung und dem Schutz, ruft jedoch gleichzeitig reflexhaft Kritik hervor an der Plumpheit, dem seichten Opportunismus und dem rein oberflächlichen

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Illusionismus.“ bound-2.html

http://www.vulture.com/2013/11/jerry-saltz-on-kanye-west-kim-kardashian-

After Pop Ich zitiere Saltz derart ausführlich, da ich seinen Gedanken äußerst bemerkenswert finde. Einerseits tritt Saltz hier in die Fußstapfen von Leslie Fiedler, indem er eine Legitimierung des Vulgären fordert: Close the Gap 2.0 sozusagen. Andererseits greift er Richard Hamilton an, dessen Pop-Definition von 1957 – „Popular, Transient, Expendable, Low cost, Mass produced, Young, Witty, Sexy, Gimmicky, Glamorous, Big business“ – bis heute, und damit meiner Meinung nach viel zu lange, in der akademischen Poptheorie Bestand hat. „Low cost“, „young“ und „witty“ werden abgelöst durch Faktizität und Fiktionalität, Blendung und Schutz. Pop wird im hegelschen Sinne „aufgehoben“ durch die Postprivacy. Deswegen ist es natürlich auffällig, dass Saltz den Begriff der „Aufrichtigkeit“ in diesem Zusammenhang einführt. Aufrichtigkeit ist Gift für die Performance der Pop-Persona. Die Probleme, die ich dann auch in meinem Essay hatte, Selfing subjekttheoretisch herzuleiten, löst Saltz indem er einfach sagt, es handele sich um ein „Nicht-Ich“. Das Nicht-Ich ist sich selbst gegenüber hundertprozentig aufrichtig. Wie Saltz dieses Nicht-Ich herleitet, erinnert an die PostmoderneDefinition von Frederic Jameson. So wie die Postmoderne die Moderne mitreflektiert, sie nach Jameson eben auch „durchlaufen“ hat, so hat die postnarzisstische Epoche die narzisstische Epoche noch im Blut, das Selfie noch die Pose, das Selfing noch das Posing, das Post-Ego noch das egoistische Zeitalter, der Globalismus noch die Grenzen. Selfing wäre in diesem Sinne eine logische Weiterentwicklung von Posing, ein Posing in „der digitalen Umwelt des Hyperkonsumismus“ (Rendueles 2015, 260). Vielleicht kann man sich diesen Zustand etwas besser erklären, wenn man zu Lacan und seinem „Spiegelstadium“ zurückkehrt, in dem das Kind bekanntlich den Unterschied zwischen je und moi lernt und versteht. Der Andere, dessen Bild dem Subjekt als Ideal-Ich (moi) gilt, und dem es sein Ich (je) anzunähern versucht, lag für Lacan außerhalb des Körpers des Subjekts. Nun indessen scheint dieses Bild des Ideal-Ichs immer mehr innerhalb des eigenen Körpers zu liegen, wenn man Handy und Laptop als Erweiterungen des Körpers begreift. Die Ränder des Körpers lösen sich auf, und damit löst sich auch eine bestimmte Form des Denkens auf, die daran glaubt, dass man sich gerade nicht einbringen soll, wenn man die Gesellschaft verändern will. (Poschardts Auffassung des “Cool“ als revolutionärem Habitus.) Auch für Saltz steht die neue ubiquitäre Präsentation eines Nicht-Ichs dafür, dass es eine neue Form des „total merging of art with everything around it“ gäbe, was für ihn erst einmal die Auflösung der (bildenden) Kunst als autopoetischem System bedeutet. In diese Richtung habe ich in meinem Essay gedacht, als ich schrieb, dass die Gegenwart eine neue Logik besitzt: Politik statt Kultur, Zahlen statt Zeichen, Welt statt Liverpool. Der Paradigmenwechsel hat, es liegt eigentlich auf der Hand, mit Grenzen zu tun. Die Kunst wächst in die Welt hinein, und Pop verliert, als ein Subsystem der Kunst und Kultur – der alte Begriff der Subkultur muss noch einmal fallen –, an politischer Relevanz. Das Unsympathische an der Pop-Ideologie war ja ihre Fixiertheit auf die Grenze. Bei Pop und Grenzen ging es nicht um die Grenzen Europas – nichts könnte Pop weniger interessieren als nationale Grenzen –, sondern um ästhetische Grenzen und damit um das, was man früher mit dem Begriff der Distinktion bezeichnete. Wenn etwas distinkt ist, ist es klar unterscheidbar

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von etwas Anderem, und genau in diesem Sinne könnte man sagen, dass die Posen im Pop für die Handelnden immer den Zweck hatten, sich erstens vom Mainstream zu unterscheiden und zweitens auch den feinen Unterschied untereinander herauszustellen. Einer, der dieses Doppelagententum des Pop zwischen Gruppenkultur und Individualismus gut auf den Punkt gebracht hat, ist Rainald Goetz: „Denn in Wirklichkeit ist man ja in einer hochprivilegierten, extrem interessanten Position: gegen beides, gegen Pop in der Realform des real existierenden Proll-Pops. Und genauso und im Zweifelsfall noch mehr: gegen Untergrund, speziell in der Realform des real existierenden Minimal-Horizont- und Minimal-Undergrounds, der sich neuerdings, lustige Drehung der Geschichte, hier, bei unveränderter Weltzugriffspraxis, selbst wieder Pop nennt“ (Goetz 2002, 193). Dieser Narzissmus der kleinen Differenzen war durchaus keine popspezifische Identitätskonstruktion. Im Gegenteil: Geschmack ist ein Relikt aus der bürgerlichen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, das sich in die Popkultur des 20. Jahrhunderts hinübergerettet hatte – nicht zuletzt durch eine bestimmte Form der StilVersessenheit. Beide Lebensformen – Kultiviertheit und Sophistication, bürgerlicher Lebensstil und Pop – waren eigentlich Lebensformen, die das Individuelle über das Soziale stellten. Diese Grenzversessenheit, die dem westlichen Individualismus eingeschrieben ist, kommt momentan zu einem Ende, nicht zuletzt weil im Netz die Grenzen des menschlichen Körpers permeabel werden. Mit dem Selfing in den sozialen Netzwerken beginnt eine Ära, in der das Soziale wieder über das Individuelle gestellt wird – allerdings eine vollkommen andere Form des Sozialen als die, an die wir gewöhnt sind.

Der Drift zum Hyperindividuellen Nicht von ungefähr spricht Saltz in seiner Analyse einer neuen Form der Selbstdarstellung, die zu so etwas wie einer neuen identitären Form in der populären Kunst führt, von „ihnen“, also von Kim und Kanye. In meinem Essay bin ich sogar noch weiter gegangen und habe den einem Science Fiction Film entliehenen Begriff der „Drift Kompatibilität“ benutzt, um zu zeigen, wie Individuen immer mehr im Netz zusammenwachsen und neue Sozietäten entstehen. Vielleicht wäre hier ein neuer Begriff wie der des „Diviralen“ oder des „Dividuums“ noch besser geeignet, dieses Überschreiten des Individuums, was wir momentan beobachten, zu charakterisieren. Hier muss unvermeidlich der Begriff der „Schwarmintelligenz“ fallen, der bekanntlich ein emergentes Phänomen bezeichnet: Kommunikation oder spezifische Handlungen von Individuen können Verhaltensweisen des „Superorganismus“ der sozialen Gemeinschaft im Internet hervorrufen. Neue maschinengestützte Formen der Kollektivität und Konnektivität wenden sich gegen den Snobismus, Narzissmus, Egozentrismus und Individualismus, kurz: das Massendandytum, an das wir uns mit Pop gewöhnt hatten. Das Soziale tritt in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts also nicht nur in Form von Willkommenskultur in Erscheinung – der Ort, wo das Soziale das Individuelle einnimmt, sind die sozialen Netzwerke. Dort beherrscht es meiner Meinung nach das Reale in Lacans Sinn, also die seltsame Zwischenwelt zwischen Realität und Imaginärem. Doch bevor man jetzt begeistert eine neue Form des real existierenden Sozialismus ausruft, sollte man sich einmal überlegen, wofür das neue Soziale in den sozialen Netzwerken steht. Im Hyperkonsumismus wird Selfing – das Überschreiten des Selbst in der Konstruktion des Selbst – zu der Form des Identitätsmanagements, in der sich Subjekte potentiell auflösen im Austausch und damit im

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Handel. Einen Horrorslogan stellte meiner Meinung nach die 9. Berlin Biennale auf ihre Website: „This is a format/that works for everything/where speaking and selling/collapse/in the principle of exchange./This is how/ the ingangible becomes real/and the real/becomes incomprehensible. http://bb9.berlinbiennale.de/de/ Ich weiß nicht, ob damit das Format Kunst oder das Format Mensch oder das Format Ökonomie oder das Format Kommunikation gemeint ist – oder das Format Soziale Medien – aber was immer es ist, es ist eine durchaus beunruhigende Form der Überschreitung. In meinem Essay in Pop. Kultur und Kritik habe ich noch sehr mit dieser Bestandsaufnahme – Selfing als die totale Ökonomisierung des Selbst – gehadert und mich dann doch für eine weniger pessimistische Einschätzung entschieden. Inzwischen bin ich so weit, die Ambivalenz zuzulassen und zu sagen: Selfing kann potentiell ebenso für den Siegeszug des neoliberalen Paradigmas stehen wie für eine neue Form der datengesteuerten, hyperindividuellen Sozietät. Spielen wir die beiden Szenarien kurz durch. Als performative Selbstdarstellung im Neoliberalismus würde Selfing zu einer dandyesken „Selbsthervorbringungsmaßnahme“ (Tietenberg 2013, 527) eines Zeitalters, in dem die Sphäre des Merkantilen nicht mehr zu trennen ist vom Privaten. Postprivacy - so wird diese Auflösung zweier jahrtausendelang getrennter Sphären – Oikos und Polis – genannt. Was der Politisierung des (weiblichen) Selbst guttun könnte, wird durch die Tatsache, dass das Politische heutzutage schon vom Ökonomischen eingenommen wurde, konterkariert. In der Postdemokratie des 21. Jahrhundert geht das Selbst, das sich dazu aufschwingt, Oikos und Polis zusammenzuführen, in der Flut des Konsumismus baden. Denn so sozial man das sich selbst nur wenig reflektierende neue Selbst finden kann, so scheint es letztlich doch unreflektiert in der Bilderflut unterzugehen und die Differenz zwischen viraler Kunst und viralem Marketing gar nicht mehr zu erkennen. Der Grund dafür liegt meiner Meinung nach in den Möglichkeiten der Veröffentlichung. Der Netzwerk-Kapitalismus generiert über seine eigene Idee von Kreativität und Freiheit seine eigene Ökonomie. Das funktioniert darüber, dass Austausch heutzutage immer auch gleich, sofort, Handel ist – dass man sich also gar keine Gedanken mehr machen muss, ob man mit seinem Produkt – und sei es das eigene Selbst, wie so häufig im Kunstbetrieb – auf den Markt gehen soll, weil man in der Produktion schon auf dem Markt ist. Die sozialen Medien entern den Kunstbetrieb und etablieren darüber – von der breiten Öffentlichkeit noch unbemerkt – ein neues Geschäftsmodell. Der „emanzipierte Kapitalismus“, also der neue, flexible Kapitalismus nach Boltanski und Chiapello, funktioniert mit diesem Modell sehr gut. Oder, um es mit Cesar Rendueles auszudrücken: „Wer heute die konsumistische Entfremdung kennenlernen will, muss dafür nicht einmal mehr bezahlen“ (Rendueles 2015, 245).

Die Vertreter der Sozialismus-These würden dahingegen vielleicht sagen: Selfing überschreitet endlich die Form der Repräsentation, die die westliche Welt und die in ihr herrschenden Machtverhältnisse jetzt fast ein Jahrhundert geprägt hat und in der es um das (männliche) Ego geht, um Grenzziehung, Individualismus, Sophistication im Sinne von Auftrumpfen, Besserwissen in allen Variationen, kurz Statuserhalt oder, wie es jetzt immer heißt, Klassismus. Insbesondere Phänomene wie „Die Welt der Commons“, bei denen es um „Muster gemeinsamen Handelns“ geht (so der Titel einer Buchneuerscheinung im TranskriptVerlag) und in denen eben genau das Individuum und das Eigentum keine entscheidende Rolle mehr spielen sollen, können ebenfalls mit Selfing in Verbindung gebracht werden, wie auch die Konnektivität als neue Form der Kollektivität. Hierher gehört auch der Begriff des Konvivalismus als Utopie einer neuen globalen Wirtschaftsform, in der Eigentum durch

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Gemeingut ersetzt und Selbstregierung durch Beschränkung gepredigt wird. Eine neue Sozietät entsteht, deren Zielrichtung noch nicht auszumachen ist.

Ausblick: Erweiterung als Notlösung Kommen wir zum Schluss: In den 1980er Jahren erklärten Sozialforscher Artikel, dass die junge Generation von ihrer Enttäuschung von den Errungenschaften der 68er in ihre narzisstische, solipsistische Nischenkultur getrieben worden sei. Heute wiederum konstatieren Psychotherapeuten, dass die Utopielosigkeit nach 1989 die Jugend in die posthumanen Weltrettungsphantasien des Internet getrieben habe. Beiden mahnenden Stimmen war und ist nicht bewusst, dass sich mit einer neuen Generation der symbolische Horizont verschiebt. War die Generation Pop noch vom (Luftschutz-)Keller geprägt und setzte auf den Underground, so arbeitet die Generation Selfie mit dem Spaceshuttle. Das Vorspielen falscher Tatsachen zum Zwecke des Unterminierens von Verhältnissen funktioniert im Dataismus nur noch sehr bedingt. Die Kommunikation in der Konstellation als Aufblitzen gesellschaftlicher Utopie, Anti-Kanon und Anti-Normativität als Verhikel des Fortschritts – all das scheint irgendwie an Relevanz zu verlieren. Daran anschließend erscheint auch der Gedanke, dass sich die Welt, wenn überhaut, dann nur über These, Antithese, Synthese verändern ließe, irgendwie nicht mehr sexy. Diese nur gedachte Form des dialektischen Fortschreitens wird im Dataismus obsolet, in dem Denken und Handeln eins werden. Zukunft wird generiert, also gleichzeitig erdacht und gemacht. „Werden“, dieser im Poststrukturalismus populäre Begriff, erlebt dahingegen mit den technischen Möglichkeiten des Generierens – denken wir hier nicht zuletzt an die Möglichkeiten des CGR, der computer generated reality – einen Aufschwung. Was man bis jetzt nur als gedachte Fluchtlinien kannte – klein werden, schwarz werden – setzen Selfing-Apologeten jetzt um und gleichzeitig durch. Selfing bedeutet: An der Konstruktion wird nicht mehr gebastelt, sondern gebaut. Durch den Vergleich verschiedener Formen performativer Selbstdarstellung im Pop und im Dataismus lässt sich ein Trend herausarbeiten: Die Ablösung des Individuellen durch eine neue, virtuelle Sozietät und des Strategischen durch Moral. Noch ist es nicht mehr als die Skizze einer zukünftigen Gesellschaft, die sich hier ablesen lässt – einer Gesellschaft, die sich einpendeln muss zwischen blindem politischen Aktionismus und tagträumendem Futurismus. Dabei besteht die Gefahr, dass Ersteres zu einer Form der wirkungsmächtigen Unüberlegtheit führt, wie wir sie momentan beim Brexit und der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA bereits beobachten können. „Wenn wir eine bessere Welt haben möchten, dann dürfen wir nicht auf jemanden wie Obama hoffen, und wir sollten einen Donald Trump nicht fürchten“, erklärt Edward Snowden. „Vielmehr sollten wir sie selbst bauen.“ (Heisler 2016). „World making“ – so heißen heutzutage nicht nur Ausstellungen, sondern so könnte man den symbolischen Horizont eines ganzen globalen Milieus beschreiben. Eines Milieus, das, ausgehend von den kalifornischen Software-Entwicklern, für Progressivität, Transgressivität und Kontingenz steht; Selfing ist ihre Form des Identitätsmanagements, das sich viele Optionen offen lässt. Die Selfing-Apologeten, die Dataisten, glauben nur noch an die Zukunft – eine Zukunft, die eben nicht in die Vergangenheit als Antithese zurückschaut. Diese Bewegung bildet eigentlich die Variation eines klassischen Science-Fiction-Themas. Es handelt sich um die Abkopplung einer sehr großen Anzahl von Menschen, der „globalen

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Klasse“, vom Rest der Welt. Der „CalExit“ – die Drohung des Bundesstaates Kalifornien, aus den USA auszutreten – prägt den Zeitgeist ungleich stärker als es der „Last Exit Brooklyn“ – der fiktive Ausstieg aus einer grauen Nachkriegsrealität durch die Phantasiewelt der Popkultur – je möglich war. Die Theorie wird lernen müssen, diese Verschiebung zu akzeptieren. Ich danke für ihre Aufmerksamkeit.

Literaturliste Eagleton, Terry: After Theory, London: Penguin 2004. Horx, Matthias: Die wilden Achtziger, München: Hanser 1987. Geer, Nadja: Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose, Göttingen: V&R Unipress 2012. Goetz, Rainald: Dekonspiratione, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Goetz, Rainald: Klage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Goetz, Rainald: Loslabern, Frankfurt am Main 2009, Suhrkamp. Heisler, Julian: „Snowden: Trump-Wahl ein „dunkler Moment“, in: News Blog zur US-Wahl, Der Tagesspiegel vom 11.11.2016, http://www.tagesspiegel.de/politik/newsblog-zur-us-wahltrump-lobt-proteste-gegen-sich/14829498.html. (21.11.2016) Köhnen, Ralph: Selbstpoetik 1800/1900/2000. Ich-Identität als literarisches Zeichenrecycling, in: Ders.: Selbstpoetik 1800-2000, Frankfurt am Main u.a: Peter Lang 2001. Niefanger, Dirk: „Provokante Posen. Zur Autorinszenierung in der deutschen Popliteratur“, in: Pankau, Johannes G. (Hg.): Pop. Pop. Populär. Popliteratur und Jugendkultur, Oldenburg: Aschenbeck&Isensee 2004, S. 85-101. Poschardt, Ulf: Cool. Hamburg: Roger&Bernhard 2001. Rendueles, César: Soziophobie. Berlin: Suhrkamp 2015. Saltz, Jerry: Jerry Saltz on Kanye, Kim, and ‘the New Uncanny’, http://www.vulture.com/2013/11/jerry-saltz-on-kanye-west-kim-kardashian-bound-2.html (12.11.2016). Schumacher: Eckard:“Re-Make/Re-model“ – Zitat und Performativität im Pop-Diskurs, in: Gutenberg, Andrea und Ralph J. Poole (Hg.): Zitier-Fähigkeit. Findungen und Erfindungen des Anderen, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001, 271-289. Stephan, Felix: “Die Selfie-Dynastie”, Zeit Online vom 16.03.2016, http://www.zeit.de/kultur/kunst/2016-03/selfies-instagram-ausstellungen-schirn (20.11.2016). Tietenberg, Anne Kristin: Der Dandy als Grenzgänger der Moderne. Selbststilisierungen in Literatur und Popkultur, Berlin: LIT Verlag 2013.



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